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Eine neue Passion

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Schweigend, bewegt verharrt die über tausendköpfige Menge, wenn das mehr als dreistündige Spiel vom Leiden und Sterben Christi endet; nachdenklich und tief berührt verlassen die Menschen das Erler Passionsspielhaus. Draußen blühen die Wiesen, der Frühling leuchtet farbig und freundlich: ein dramatischer Kontrast. Nach sechs Jahren Spielpause kommen Ströme von Besuchern aus nah und fern in das grenznahe Tiroler Dorf Erl. Am Sonntag, 19. Mai, war Premiere.

Die Passionsspiele von Erl sind aus einer langen Tradition erwachsen. Bereits 1572 - so weiß es die Chronik - ging man dar an, das alte Mysterienspiel des Mittelalters neu zu beleben. Im Zuge der Gegenreformation begann man dann, mit Oster- und Erlösungsspielen den wirtschaftlichen und geistigen Umbruch dieser Zeit spielerisch zu verarbeiten und begreifbar zu machen. Bis heute erhaltene Handschriften zeugen vom Spielbedürfnis der Menschen, die die gesamte Heilsgeschichte von der Schöpfung bis hin zum Jüngsten Gericht auf der Bühne durchlebten. Die Entwicklung seit dem 17. Jahrhundert zeigt, daß sich der Schwerpunkt zusehends auf das Leiden und Sterben Jesu verlagerte, zur Passion hin, eingebettet in das Weltmysterium.

Spielte man anfangs auf der Tenne — sie war zugleich Volksgerichtsstätte und bevorzugter Platz für Kraftspiele -, so errichtete man schon vor über dreihundert Jahren ein Spielhaus. In den fünfziger Jahren unseres Jahrhunderts entstand dann Robert Schullers zweckmäßiger Bau des architektonisch imposanten Passionsspielhaus.

Wie die wechselhafte Geschichte der Spielstätte hat sich auch die Formgebung des christlichen Legenden- und Bibelstoffes laufend verändert, wobei man besonders die mystischen, allegorischen Szenen reduzierte. Heute bemüht man sich um eine realistische, zeitgemäße Darstellung der Heilsgeschichte.

Mit einiger Spannung erwartete man nun die Neubearbeitung des Textes durch Ekkehard Schönwiese. Schwulstige, oft pathetische Passagen sind einer ansprechend einfachen, unseren Tagen angepaßten Sprache gewichen, die den Passionsspielen auch interpretatorisch einen neuen Anstrich verlieh: Das Spiel zeigt sich um vieles wirklichkeitsnaher und ergreifender, macht man doch auch die Widersprüche und die innere Zerrissenheit der Charaktere deutlich. Ganz in dieses Konzept paßt die musikalische Bearbeitung durch Cesar Bresgen, die sich dezent und doch eindrucksvoll in den Spielablauf einfügt.

Ein ganzes Dorf spielt

Was die Bewohner von Erl, allen voran Spielleiter Hans Kne-ringer, aus dieser überarbeiteten Fassung herausholten, ist erstaunlich. In neunmonatiger Probenarbeit, bei der das ganze Dorf mit Sorgfalt, Mühe und bewundernswertem Engagement mitwirkte, entstand eine Passion, die in ihrer Glaubwürdigkeit, Spannung und Ernsthaftigkeit überzeugt. Fast scheut man sich, aus der großen Zahl von etwa vierhundert!) begeisterten Spielern einige wenige herauszuheben, ist doch das Gelingen der Spiele eben ein Ergebnis der Gemeinschaft des ganzen Ortes. Josef Dresch, der den Judas spielt, gebührt besonderer Applaus. Seine Darstellung des Jüngers, der seine Liebe zu Jesus für sein Ideal vom Reich Gottes auf Erden im Sinne der Bergpredigt verrät, ließ innere Kämpfe bis hin zur Verzweiflung deutlich werden. Erwin Thrainer überzeugte als einfühlsamer Darsteller der Figur Jesu, Maria Wieser gab der Jungfrau Maria glaubhafte Gestalt. Die wohldurchdachte, schlichte und eindringliche Personenführung brachte auf der von Lois Egg zwingend gestalteten Bühne die geschmackvollen Kostüme von Gerda Egg-Niessner voll zur Geltung.

Den beiden Regisseuren Hans Kneringer und Ekkehard Schönwiese ist eine bewegende Aufführung gelungen - eine Passion, hinter der ein ganzes Dorf steht. Man wünscht den Erlern viel Erfolg für die nächsten fünfzig Vorstellungen, der Beifall des Publikums ist ihnen gewiß.

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