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Neues Bewubtsein

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Die Komplexität und Unüber-schaubarkeit politischer Vorgänge für den einzelnen führt zu einem immer rascher fortschreitenden Prozeß der Isolierung und der Privatisierung des Individuums. Das Gefühl der Ohnmacht, politische Entscheidungen ohnehin nicht beeinflussen zu können („die da ,oben' machen ja doch, was sie wollen“), ist insbesondere eine Folge der radikalen Pro-fessionalisierung der Politik. Der einzelne zieht sich frustriert in .sein selbst gezimmertes Privatleben zu-1 rück und beschränkt sich darauf, am Wahltag formell einer kleinen Clique von „auserwählten“ Berufspolitikern die Legitimation zu erteilen.

Wenn also Demokratie kein Lippenbekenntnis sein soll, gilt es vor allem, die politische Bildung des Staatsbürgers gezielt zu fördern.

Nun ist 1973 insofern ein Schlüsseljahr für die politische Bildung in Österreich, als das „Bundesgesetz über die Förderung staatsbürgerlicher Bildungsarbeit der politischen Parteien sowie über die Förderung der Publizität“ vom 9. Juli 1972 die erforderliche finanzielle Grundlage für die Errichtung politischer (Partei-)Akademien darstellt.

Bei den beiden großen Parteien sind auch die Vorbereitungen in ein mehr oder weniger konkretes Stadium getreten. Die ÖVP will mit ihrer „Politischen Akademie“ bereits im Februar 1973 diese Tätigkeit aufnehmen.

In der Konzeption wird betont, daß „gerade bei Ablehnung aller Privilegien der Geburt und bei Chancengleichheit der durch Bildung möglich werdenden Leistung entscheidende Bedeutung als Auslesekriterium zukomme“, so Chef planer Karl Pisa.

Um eine effiziente Bildungsarbeit gewährleisten zu können, hat sich die ÖVP für die Aufstellung eines gruppenspezifischen Bildungskonzepts entschieden und insbesondere vier Zielgruppen geschaffen:

• Parteimitglieder- Mitarbeiter und Vertrauensleute, die vielfach noch nicht einmal eine politische Grundausbildung absolviert haben;

• politisch Interessierte und Begabte, die ihr bereits erworbenes Wissen vertiefen und spezialisieren wollen (Nachwuchsförderung!);

• die Gruppe der aktiven Politiker (vom Gemeindevertreter bis zum Nationalratsabgeordneten).

Die SPÖ definiert die Zielsetzung ihres neuen Schulungssystems ideologischer: „Politische Bildung im Sinne des demokratischen Sozialismus hat zwei Aufgaben zu erfüllen:

• staatsbürgerliche Bildung und Erziehung für die Demokratie;

• sozialistische Bewußtseinsbildung für die demokratische Umwandlung der Gesellschaft nach dem Modell des demokratischen Sozialismus.“

So meint etwa Otto Staininger, leitender Sekretär in der Bildungszentrale der SPÖ, daß „politische Mündigkeit“ des Menschen angestrebt werde, damit er Herrschaftsmechanismen durchschauen und die Fähigkeit zu ihrer Überwindung entwickeln könne.

Bei den didaktischen Überlegungen will sich die SPÖ vom Baukastensystem leiten lassen. Was das methodologische Vorgehen betrifft, so wird betont, daß als wesentliche Voraussetzung des Lernerfolgs (insbesondere bei der politischen Ausbildung im sozialdemokratischen Verständnis) die Berücksichtigung gruppendynamischer Prozesse anzusehen ist, was den Vorzug der Lerngruppe gegenüber der Einbahnkommunikation bedeutet.

Mit dem bisherigen Schulungssystem der SPÖ wurden nach vorsichtigen Schätzungen jährlich zirka 100.000 Personen erreicht, das neue System soll aber den Zugang zum Verständnis der Grundlagen und der Ziele sozialistischer Politik noch besser ermöglichen — was auf eine angehobene, stärker politikwissenschaftliche Ausrichtung hinausläuft.

Allerdings scheint es bedenklich, politische Bildung allein den Parteien zu überlassen. Immerhin sind in der Erwachsenenbildung zahlreiche Verbände, Kammern, Kirchen und Interessengemeinschaften tätig. Die Qualität des Dargebotenen ist jedoch unterschiedlich und entzieht sich einer genauen Untersuchung. Es darf jedoch mit Sicherheit angenommen werden, daß nicht alle diese Schulungen, Kurse und Seminare der Heranbildung mündiger, kritischer und problembewußter Menschen dienen, sondern eher der Vergatterung der eigenen Mitglieder und der Werbung neuer Sympathisanten.

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