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Politik ist keine Religion

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In der Politik und der Wirtschaft, in den Meinungen und im Geistesleben der westlichen Welt wehen seit einiger Zeit die Winde aus einer anderen Richtung. Es zeigt sich außerdem, daß in den verschiedenen Ländern die „Tendenzwende”, die heute im Gespräch ist, keineswegs in gleicher Richtung verläuft. Der Begriff „Nationalismus” hat damit wenig zu tun, es sei denn, daß in den verschiedenen Ländern Europas die politische, wirtschaftliche und geistige Situation so verschiedenartig ist, daß auch die sich ankündigenden Tendenzverände- Tungen in der Gesamheit Europas nicht in die gleiche Richtung weisen.

Zwei Beispiele stehen da für viele: der sozialdemokratische deutsche Bundeskanzler Schmidt versteht sich besser mit dem liberalen französischen Staatspräweil die Analysen und Formulierungen für die Masse der Bevölkerung unverständlich sind. Die Demokratie, in der Stimmen gezählt und nicht gewogen werden, wirkt -sich unvermeidlich zugunsten derjenigen Kräfte aus, die Sicherheit und Ordnung zu gewähren sich anheischig machen. In Bayern sind die Sozialdemokraten, unter denen der linke Flügel stark ist, erschrocken, nachdem bei den letzten Landtagswahlen die Arbeiterquartiere in München zum größten Teil für die CSU, die Partei von Franz Josef Strauß, gestimmt haben.

Um bei Deutschland zu bleiben: auf die Aufbruchstimmung und Emanzipationsbewegung der sechziger Jahre ist, deutlich genug, eine Wendung zugunsten der bewahrenden Kräfte gefolgt. Die Intelligenz, die jene Welle repräsentierte, ist daran nicht unsidenten Giscard d’Estaing als mit dem französischen Sozialistenführer Mitterand. Ferner: In Italien richtet sich die Abwehr vor allem gegen neofaschistische Tendenzen, in der Bundesrepublik Deutschland gegen marxistische und anarchistische Strömungen. Die Möglichkeit ist nicht auszuschließen, daß — um handfeste Begriffe zu verwenden — in den romanisch-südlichen Ländern Europas der Wind heftiger von links, in den deutschsprachignordischen Ländern stärker von rechts wehen wird; während England, das immer eine Sonderstellung einnnahm und dessen Geistesleben und Theorien von denjenigen auf dem europäischen Kontinent grundverschieden sind, auch unter einer Labour-Regie- rung seinen eingefleischten Pragmatismus nicht verleugnet.

Dabei ist aber zu berücksichtigen — und in diesem Punkte gibt es kaum nationale Unterschiede —, daß überall die sachbezogene Politik und ihre „Zwänge” sich in einem Gegensatz zu der intellektuellen Systemkritik und Gesellschaftstheorie befinden. Die Politik steht gegenwärtig unter dem Zwang der Bekämpfung der wirtschaftlichen Krisensymptome, um nicht zu sagen: der Katastrophenverhinderung. Das drängt eine ideologisch denkende Intelligenz in die Defensive, nicht nur, weil sie keine Möglichkeit direkter Einflußnahme auf den politischen Machtapparat hat, sondern auch, schuldig. Es geht eben nicht an, in einer so komplexen Gesellschaft, wie sie sich in der Bundesrepublik zur Zeit des „Wirtschaftswunders” herausgebildet hat, mit einem so simplen Gegensatzpaar wie „progressistisch” und „reaktionär” zu operieren. Daß auf Willy Brandt, der übrigens auch seine Schwierigkeiten mit den Jungsozialisten hatte, Hellmuth Schmidt folgte, hat symbolische Bedeutung; aber es wäre falsch, im einen eine pro- gressistische Führerpersönlichkeit, im anderen einen reaktionären Machtpolitiker zu erblicken.

Die Mitte, die an die Vernunft appelliert und die Dinge sachgerecht und differenziert beurteilt, hat es immer am schwersten. Politische Vernunft, die gegen extrem rechts und extrem links die Freiheit und das Maßhalten verteidigt, hat es mit Geistern zu tun, die der offenen Diskussion unzugänglich sind. Vernunft stößt auf Schlagwörter, die dafür stehen, daß man aus Politik ein Dogma gemacht hat. Politik ist aber nicht ein religiöser Glaube, sie ist Auseinandersetzung mit und Lösung von Sachfragen. Das schließt sozialethische Wertsetzungen und fortschrittliche Maßnahmen auf Teilgebieten nicht aus. Es handelt sich wesentlich darum, Prioritäten zu setzen und Möglichkeiten auszuschöpfen, wobei bei deren Auswahl und Ausmaß genug Platz für parteipolitische Auseinandersetzungen bleibt.

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