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Rebellion gegen die Verarmung

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Am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien wurde 1976 mit den Arbeiten an einem Projekt über die Agrargeschichte 1918 bis 1938 begonnen, ein Versuch gleichzeitig, das politische Verhalten der Bauernschaft sowie die wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen zu untersuchen.

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Am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien wurde 1976 mit den Arbeiten an einem Projekt über die Agrargeschichte 1918 bis 1938 begonnen, ein Versuch gleichzeitig, das politische Verhalten der Bauernschaft sowie die wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen zu untersuchen.

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A1s erster abgeschlossener Teil XAder Projektarbeit liegt nunmehr die Arbeit über „Agrarstruktur, Bauernbewegung und Agrarpolitik in Österreich 1919 - 1929“ vor, die im Rahmen der „Veröffentlichungen zur Zeitgeschichte“ vorgelegt wurde.

Heinz Gollwitzer meint einleitend im voluminösen Sammelband über „Europäische Bauernparteien im 20. Jahrhundert“, daß das bäuerliche Element in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts „in vielen europäischen Staaten die Demokratie trug, in Regie-

rung und Opposition eine stark demokratisierende Aktivität entfaltete und innerhalb des von ihm noch maßgebend beeinflußten sozialökonomischen Bereichs vieles für die Modernisierung der Ge- sellsęhaft zuwege gebracht hat“.

Gollwitzer protestiert mit dieser These gegen alle Theorien gesellschaftlichen Wandels, die im Agrarsektor das Hindernis wirtschaftlichen, sozialen und politischen Fortschritts sehen. Namentlich gegen Barrington Moore, der in seinen „Sozialen Ursprüngen von Diktatur und Demokratie“ der Bauernschaft bestenfalls „destruktive revolutionäre Kräfte“ zubilligt und für Europa die ausschlaggebende Rolle städtisch-kapitalistischer Kräfte für die Herausbildung demokratischer Formen gesellschaftlichen Lebens unterstreicht.

Wenn auch die von Gollwitzer edierten Aufsätze über die europäische Bauernbewegung seine zentralen Aussagen nicht befriedigend untermauern können, so bringen sie doch unbestreitbar zum Ausdruck, daß in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen die Bauernschaft noch einmal eine Aufwertung ihres gesellschaftlichen und politischen Stellenwertes erfuhr.

Auch in Österreich erlangte die Bauernschaft unter den neuen parlamentarisch-republikanischen Verhältnissen die gesteigerte Aufmerksamkeit der politischen Parteien. Rund 27 Prozent der Gesamtbevölkerung lebten von der Land- und Forstwirtschaft, jeder vierte Berufstätige wirkte im Agrarsektor. Die Masse der Bauernstimmen mußte den Ausschlag geben für die Gestaltung der parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse und damit die Weichen für die gesellschaftliche Entwicklung stellen.

So hoffte Otto Bauer, der Führer der Sozialdemokraten, nach dem Zerfall der christlichsozialgroßdeutsch-sozialdemokratischen Koalitionsregierung 1920, auf die Bildung einer eigenen Bauernpartei, mit der ein Bündnis möglich wäre.

Mehrere Faktoren schienen vorerst diese Orientierung zu stützen: Beim Zusammenbruch der Monarchie erfaßte eine tiefe republikanische Grundstimmung die Bauernschaft; die Arbeitsgemeinschaft der Bauemvertreter mit den Großgrundbesitzern zerbrach und machte der Forderung nach Landaufteilung Platz; die Instanzen des alten Staatsapparates büßten unter der Bauernschaft ihre Autorität ein und auf

Regierungsebene gab es in verschiedenen Fragen ein akkordier- tes Vorgehen der sozialdemokratischen und bäuerlichen Repräsentanten.

Aber sehr bald kamen die Grenzen dieser bäuerlichen Bewegung zum Vorschein: Sie stieß auf die unverzichtbaren Reste staatlicher Zwangswirtschaft, die durch Lieferungsvorschriften und Requisitionen die Versorgung der Städte mit Nahrungsmitteln aufrechtzuerhalten hatte.

Gewaltsamer Widerstand der Bauern gegen behördliche Requisitionskommandos und örtlich blutige Auseinandersetzung bewirkten eine konservativ-reaktionäre Umpolung des bäuerlichen Protestpotentials schon am Beginn der Republik.

Die Bauernschaft schloß sich rasch wieder den bürgerlichen Parteien an, verband sich mit Großgrundbesitzern und industriellen Unternehmern gegen das sozialpolitische Werk der Koalitionsregierungen und beschränkte sich im übrigen darauf, die Wiederherstellung der vollen Verfügungsfreiheit über den landwirtschaftlichen Warenmarkt einzu- fordem.

Das seit den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts aufblühende landwirtschaftliche Organisationswesen war durch autoritäre Klientelstruktur geprägt und durch heterogene ideologische Residuen aus Bauernschutzforderungen, nationalen oder religiösen Glaubenssätzen und Antisemitismus verkittet.

So erwies sich die Bauernschaft als stark genug, um identifizierte Gegner wie Liberalismus und Sozialdemokratie zu bekämpfen, aber als zu schwach, um positive •gesellschaftsgestaltende Pro-. gramme und politische Umgangsformen zu schaffen.

Die soziale Binnenstruktur der österreichischen Bauernschaft war zudem zu stark gegliedert, um ein einheitliches, überregionales und demokratisches Interesse entstehen zu lassen.

Neben Besitzgröße, Kapitalbesitz und natürlicher Fruchtbarkeit spielten auch regionale Differenzen, wie Marktnähe und Diversifikationsmöglichkeit der Produktion eine ausschlaggebende Rolle und bewirkten starke Disparitäten der Einkommen und Lebenslage je nach Betriebsgröße und Gegend.

Andererseits sorgten Reste der Gemeinwirtschaft, der besondere und naturbestimmte Produktionsrhythmus, die spezifische Form des Arbeitseigentums und die Randlage im marktwirtschaftlichen System für das Überleben

bäuerlich-dörflicher Kultur und eines vagen „Bauernbewußtseins“.

Die neue Landarbeiterbewegung tat ein übriges, um die Bauernschaft zu einem stabilen Element der bürgerlichen Parlamentsmehrheit zu machen. Dafür überantwortete man die Agrarpolitik im engeren Sinn und die Regelung der Arbeiterverhältnisse in der Landwirtschaft den Länderregierungen. Im übrigen sehr zum Nachteil der Landwirtschaft, da die Instrumente staatlicher Wirtschaftsförderung und genossenschaftlicher Selbsthilfe öffentlicher Kontrolle entzogen und von örtlichen oder regionalen Machteliten monopolisiert wurden.

Dennoch blieben regionale Bauemgruppen oder einzelne

Gliederungen (vornehmlich des Landbundes) stets für Protestaktionen gut. Solche Formen bäuerlichen Protestes entzündeten sich in den Jahren bis zum Eintritt des Landbundes in die Koalition 1927 an der Höhe der Steuern, der Preise, des extremen Zinssatzes und Kreditmangels sowie der Bankenskandale.

Im Sinne der „moralischen Ökonomie“ drangen diese Proteste aber nie über den unmittelbaren Anlaß hinaus, blieben regional beschränkt und verloren ihre Triebkraft, sobald von offizieller Seite eine Milderung drückender wirtschaftlicher Verhältnisse in Aussicht gestellt wurde.

Erst mit dem Einbruch der

Weltwirtschaftskrise bildete sich wieder eine gleichförmige unmittelbare Lebensperspektive für die Bauernschaft heraus. Aber als Perspektive des Niederganges: 1929 führten die Rentabilitätserhebungen der Landwirtschaftskammern für den weit überwiegenden Teil der landwirtschaftlichen Produktionsgebiete erhebliche Substanzverluste an, die in den folgenden Jahren rapide zu- , nehmen sollten.

Die Verschuldung der Landwirtschaft stieg progressiv an und der drohende wirtschaftliche Ruin setzte Impulse für eine neuerliche Mobilisierung der Bauernschaft. Im Gegensatz zu den punktuellen Forderungen vorangegangener Aktionen enthielt die folgende „große Krise“ keimhafte Elemente der offenen Rebellion gegen die bestehenden politischen und gesellschaftlichen Strukturen.

Eine Zeitlang versuchten Reichs- bauernbund und Landbund, diese Bewegung zu steuern, indem sie politische Alternativen beschworen. Es war die Zeit, in der auf Versammlungen und Kundgebungen, in der Bauernpresse und in Flugblättern für die neue „Rückkehr zum Agrarstaat“, dem sich eine „Kamarilla, die nur Großkapital und Großindustrie“ kenne, widersetzte, und die nun zum belieblen Angriffsziel der christlichsozialen Bau- ernbündler wurde.

So breit die Parole von der Ständedemokratie auch ventiliert wurde, so wenig Erfolg war ihr beschieden. Hatte der Landbund schon bei seiner Programmdiskussion keine Erläutertingen des angestrebten „ständischen Aufbaus“ des Staates geben können, so kamen auch die gemeinsamen Beratungen mit dem Reichsbauernbund in dieser Frage nicht voran, sieht man davon ab, daß (wie in und nach der Verfassungsreform 1929) die autoritären Elemente des Staates gefördert wurden.

In den kritischen Phasen der Jahre 1933/34 waren die Bauernorganisationen bereits politisch marginalisiert — in einer Zeit, in der namentlich in den Alpenländern Pfändungen im Auftrag der Behörden oder der Banken ganze Bauerngemeinschaften in Bewegung setzten und zu militanten Formen des Widerstandes führten.

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