6570101-1950_16_01.jpg
Digital In Arbeit

Der Turm in Niederösterreich

Werbung
Werbung
Werbung

Die Parteien haben ihre Sprüche zu dem Ereignis in Niederösterreich gesagt. Jede nach ihrer Fasson. Sieg oder Niederlage — die Rollen waren für die politischen Interpreten ungleich verteilt. Die niederösterreichische Bauernschaft hatte sich unter ungünstigen äußeren Umständen, unter den Augen einer argwöhnischen Besatzungsmacht, in einer Zeit der Unruhe, des Mißmuts und vielfacher Zersplitterungen, in den Bauern-kammerwahlen als ein formidabler geschlossener Block erwiesen. Man muß verstehen, die Aufgabe jener, welche den ihren Parteien verbliebenen Stimmenrest von vierzehn Prozent zu verschönern hatten, war schmerzlich.

Seit dem letzten Wahlgang vor achtzehn Jahren hat sich trotz allen dazwischenliegenden heftigen Umwälzungen im öffentlichen Leben, trotz den ökonomischen und sozialen Druckverschiebungen der Zeiger des politischen Manometers fast kaum gerührt. Es ist schwer, ein gleiches Beispiel aus mittelständischer Schichte heranzuziehen. Der Marsch auf das Land, die Eroberung des Dorfes war oft angesagt und angesetzt worden. Auch von Feldherrn, die sich auf politische Taktik, Annäherung und Angriff auf das Ziel verstehen. Es war ihr blutiger Ernst gewesen. Und dennoch schlugen die Unternehmungen in Niederösterreich fehl, mußten sich mit lokalen Randgewinnen begnügen. Der Turm des Niederösterreichischen Bauernbundes steht wie aus dem Felsen gewachsen. Kein Quader fehlt. Was ist die Ursache? Die Untersuchungen, die an das Ereignis geknüpft wurden, blieben in parteipolitischen Erwägungen haften. Als ob die Partei im Leben des Menschen alles wäre, alles nur von dem Widerspiel der politischen Mächte bestimmt, alles nur von Masse, dem Lärm der Propaganda, dem Drill, der Vehemenz der Schlagworte und der blendenden Verheißung jederzeit und überall gelenkt würde und als ob nicht vielmehr Partei im wahrsten Sinne nur Erfüllung, Tat, Leistung bedeuten muß, aus der sie Leben und Recht bezieht.

Dem weithinragenden Wahlergebnis im niederösterreichischen Bauerntum muß tiefer nachgeschürft werden, wenn recht ermessen werden soll, warum dieser Turm an der Donau steht. Seit einem halben Jahrhundert hebt er fröhlich und trotzig, je nach dem Wetter, ohne sich zu rühren, sein Haupt gegen den niederösterreichischen Himmel. Als die Reichsratswahlen des Jahres 1901 der jungen christlichsozialen Bewegung unter den Einwirkungen, welche die leidenschaftlichen Verwirrungen der aus-gebrochenen Sprachenkämpfe hervorriefen, eine hart empfundene Einbuße brachten und ihr Lauf nach dem Urteil schon triumphierender Gegner für immer gehemmt schien, riß in den 1902 nachfolgenden niederösterreichischen Landtagswah-i'en die junge christliche Bauernbewegung in einem alles niederschmetternden Wahlerfolg aufs neue die Reihen hoch und half Raum schaffen für das historische Geschehen, das 1907 in den ersten Wahlen des allgemeinen gleichen Wahlrechts die Partei Luegers zu der größten des Parlaments machte. Und als mit den Juniwahien des Jahres 1911 alles nach dem Tode des großen Führers in einem Abgrund von Zwietracht, Verleumdung, Torheit und Verzweiflung zu versinken schien und an die niederösterreichischen Bauernvertreter die Versuchung herantrat, sich in eine aus der Solidarität der christlichen Stände losgelöste Agrar-partei zu verwandeln, da widerstanden sie, traten an die Seite Leopold Kun-schaks, des Wiener Bewahrers des Luegerschen Erbes, und retteten so die christlichsoziale Partei vor dem Zerfall.

Es ist nicht zu ermessen, wie anders die stürmische Gestaltung der zwanziger Jahre der ersten Nachkriegszeit geendet hätte, ohne die Geschlossenheit der christlichen Volksbewegung und ihrer Mitte, ohne den Bauernbund Niederösterreichs, dessen stumme Kolonnen furchtlos und unerschütterlich, nicht umsonst mehr als einmal den Marsch durch das von umstürzlerischem Gewoge durchbrandete Wien antraten. Nun hat sich diese unschätzbare gesunde Kraft aufs neue bewährt.

Nein, nicht Klassenegoismus, nicht Propaganda und nicht ein stures Kommando nieten diese Massen zusammen. Und auch die christliche Grundstimmung des niederösterreichischen Bauernvolkes tut es nicht allein. Dieses Bauerntum ist mit seiner Organisation nicht beim Wort stehengeblieben. Es ist früh an die soziale und volkswirtschaftliche Tat gegangen. Eine scheinbar übermächtige Umwelt stand ihm entgegen. Die Fruchtbörse jonglierte mit dem Arbeitsertrag des Ackerbauers, Händlerringe, ein ungehemmter Zwischenhandel diktierte dem Bauern souverän die Preise. Zehntausende Bauernwirtschaften wurden in einem schauerlichen Zerstörungsprozeß, der durch ganz Österreich ging, Jahr um Jahr vergantet, abgestiftet, zermalmt von einer wucherischen Verschuldung. Vor difee Lage gestellt, blieb die sich organisierende christliche Bauernschaft nicht in der politischen Arbeit stecken, sondern begann mit dem genossenschaftlichen Aufbau ein Werk der Selbsthilfe, das heute ihr wirtschaftliches Rückgrat, aber auch ihre Kraft im öffentlichen Leben bildet. Denn dieses Werk sicherte ihm das Vertrauen des Volkes, das sich unter solcher Führung geborgen sieht.

Es will etwas besagen, daß von den 4516 landwirtschaftlichen Genossenschaften in Österreich, die ihr Allgemeiner Verband gegenwärtig zusammenfaßt, 1797, mehr als ein Drittel, auf Niederösterreich entfallen. Das Genossenschaftliche Jahrbuch 1950 weist allein 572 Raiffeisenkassen und 907 Verwertungsgenossenschaften auf, eine Entwicklung, die in Österreich die Spitze hält. Diese genossenschaftliche Front ergänzen unter anderem 65 Ein- und Verkaufs-, 167 Viehzucht- und Weidegenossenschaften. Man darf nicht glauben, daß dieses Wachstum zur Größe sich immer in einem freundlichen Klima vollzog. Schwierigkeiten aller Art befielen, vor allem infolge des Mangels fachlich geschulter Kräfte, die 22 Lagerhausgenossenschaften, mit denen dieser Zweig der Vergenossen-schaftung vor fünfzig Jahren begann, und mühsam war der Aufstieg bis zu dem heutigen Stande von 65 Lagerhausgenossenschaften mit ihren 92 Filialen. Die schwere Krise der Raiffeisenkassen in den valutarischen Umwälzungen nach dem ersten Weltkrieg ließ die wirtschaftlichen Fundamente des großen Selbsthilfewerkes von Grund auf erbeben. Der während der nationalsozialistischen Ära von Berlin aus unternommene Versuch, zugunsten des Zwischenhandels den Verkaufsgenossenschaften den direkten Absatz zu unterbinden, bedrohte diese ganze Gruppe mit dem Verkümmern. Aber immer wurden die auftauchenden Gefahren durch das feste Zusammenstehen, eine gerechte Lastenverteilung und eine tüchtige, mitten im Volke verwurzelte Führung durchstanden. Es ist ein schönes und stolzes Wort, das Karl Latschenberger in der Festschrift zum Fünzigzigjahrbestand des Verbandes ländlicher Genossenschaften in Niederösterreich schreiben konnte: Das Genossenschaftswesen ist jene organisch gewachsene Form der Gemeinwirtschaft, die sich ebenso frei von diktatorischer Staatsgewalt wie von spekulativer Wirtschaftsanarchie hält. Wir folgen im Genossenschaftswesen dem Beispiel unserer Väter und geben ihr Werk vermehrt und verstärkt weiter an das kommende Geschlecht zum Wohle von Volk und Vaterland.“

Die politische Pflegestätte dieses Geistes war der Bauernbund, er war der Sammelplatz aller aktiven Kräfte und die

Deckung, welche die aufbauende sachliche Arbeit gegen die Unruhe des politischen Lebens abschirmte. Er führte durch ein halbes Jahrhundert die Waffe und hatte in der anderen Hand die Kelle. Viele Wunden hat unser Land erlitten, groß und vielfach schmerzlich sind die Ver-

änderungen, die sich vollzogen haben. Etwas Großes ist e, daß dieser Turm an der Donau steht, wuchtig, ohne daß ein Quader wiche, dieses gesunde, wohlgefügte und um Pflicht und Recht wissende Bauerntum.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung