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Recht und Sittlichkeit nicht zu trennen.

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Der Kongreß stand unter einer Thematik, die schon durch Jahrhunderte hindurch das Verhältnis von Staat und Kirche, von Sittlichkeit und Recht bestimmt und die immer wieder zeitgeschichtlich gesehen werden muß. Es ging nicht nur um eine abstrakte Frage; sie hat ungeheure Konsequenzen für die konkrete Verantwortung und verantwortliche Gestaltung des öffentlichen Lebens durch den Christen.

Das Verhältnis von Recht und Sittlichkeit ist im ganzen rechtliche Gestaltwerdung politischer Theologie, und eben aus diesem Grund erschien die Thematik des Kongresses, an dem mehr als 200 Moraltheologen aus fast allen europäischen Ländern, aus Ost und West, teilgenommen haben, von außergewöhnlicher Bedeutung für die Gegenwart.

Das Verhältnis von Recht und Sittlichkeit wurde zunächst unter einem doppelten Gesichtspunkt gesehen: Der erste Aspekt ist derjenige, daß jegliche Rechtsordnung nicht in sich selbst steht, sondern auf ganz bestimmte anthropologische und sittliche Voraussetzungen zurückverweist. Recht ist eine eminent anthropologische Größe; im Recht ist eine anthropologische Vorentscheidung auf ganz konkrete gesellschaftliche Entscheidungswirklichkeit hin enthalten.

Hier ist eine erste und grundlegende Verantwortung des Moraltheologen gegeben. Sie besteht darin, daß er die vorrechtlichen Fundamente der derzeitigen Anthropologie und der Sittlichkeit reflektiert und sie umsetzt auf ihre Gestaltwerdung im Rahmen der rechtlichen Ordnung.

Der zweite Punkt ist der, daß diese rechtlichen, Fundamente der Anthropologie und Sittlichkeit nicht als eine undiskutierte Größe in der gegenwärtigen pluralen Gesellschaft gegeben sind. Von mehreren Kongreßteilnehmern wurde immer wieder betont, daß wir in einer pluralen Gesellschaft leben, die sich nicht nur durch einen Pluralismus der Meinungen auszeichnet, sondern auch durch Konflikte und Kontraste. Eben hier läge die Aufgabe der Verantwortung des Moraltheologen, daß er in dieses Gespräch mit eintritt und daß er versucht, diejenigen anthropologischen und sittlichen Vorentscheidungen, die er anzubieten hat, den anderen Mitgliedern dieser Gesellschaft plausibel, verstehbar, annehmbar zu machen.

So gesehen, ist der Moraltheologe aufgerufen, das allgemeine Gespräch in Gang zu halten und eine größtmögliche Einsicht in vorrechtliche Elemente zu finden, die es dann dem Gesetzgeber erlauben, eine Rechtsordnung zu erstellen, die von der moralischen Mehrheit der jeweiligen Rechtsgemeinschaft getragen wird.

Wenn nicht alles täuscht, so gibt es heute eine Reihe von Gründen für eine neuerliche Diskussion über das Verhältnis von Recht und Sittlichkeit. So wurde angeführt, daß die fortschreitende Säkularisierung die Emanzipation des Rechts von der Moral verlange. Konkretisiert wurde diese Forderung in der Liberalisierung des Sexualstrafrechts, in den Bemühungen um eine Reform des Strafvollzugs und in der Diskussion um die Grundwerte.

Diese Elemente der Emanzipation des Rechts von der Moral kamen beim Kongreß sehr deutlich zur Sprache. Es wurde festgestellt, daß es heute die Tendenz eines Rückzugs in dem Sinne gebe, daß der Gesetzgeber seine moralische Kompetenz einzuschränken suche. Dies geschehe ganz aus der Überlegung der Toleranz des Gesetzgebers gegenüber dem Rechtsgenossen, dennoch sehe man in einer solchen Tendenz eine Gefahr. Diese liege gerade in einer wachsenden Technisierung des Rechts.

Das Recht werde losgelöst von anthropologischen und sittlichen Vorentscheidungen ganz in die Kompetenz des Technokraten verlegt, und diese Kompetenz des Technokraten entziehe sich der allgemeinen Kon- trollierbarkeit. Wenn aber eine solche Tendenz um sich greife, dann werde Recht mehr und mehr zum Gebiet der Technokraten, das schon nicht mehr kontrollierbar ist. Das bedeute, daß wir auch eine neue Form, die Gefahr eines neuen Rechtspositivismus vor uns haben, die sehr leicht in unmittelbare Willkür Umschlägen könnte. Man dürfe dabei nicht übersehen, daß es darüber hinaus den Versuch des Rechtspositivismus, des Wertnihilismus gibt, das Recht aus der Moral völlig herauszulösen.

Die große Herausforderung an die Moraltheologie scheint heute auch zu sein, daß sie ihre eigenen Wertvorstellungen neu begründen muß, um sie wirksam in die heutige Gesellschaft einzubringen. Die Schwierigkeit dabei ist, daß jegliche Moralnorm auf anthropologische Vorentscheidungen zurückverweist, auf einen zugrundeliegenden anthropologischen und theologischen Einsichtsprozeß. Dieser müßte dem Nichtglaubenden verstehbar und annehmbar gemacht werden.

Hier liegt aber das Problem zum einen in der Eigenart des theologischen Erkenntnisprozesses, zum anderen in der dauernden Herausforderung, diesen theologischen Einsichtsprozeß gegenüber dem Nichtglaubenden zu rationalisieren.

Mit aller Deutlichkeit wurde die Meinung vertreten, daß es nicht zu einer Trennung und schon gar nicht zu einer Feindschaft zwischen Recht und Sittlichkeit kommen dürfe. Denn gerade die in der jüngsten Vergangenheit geführte Grundwerte- und Grundrechtsdiskussion hat gezeigt, wie sehr unsere gesamte Rechtsordnung auf sittlichen Wertvorstellungen beruht. Es darf nicht zu einer Trennung von Recht und Moral kommen, höchstens dazu, daß man die spannungsvolle Einheit von Recht und Moral heute besser und nuancierter sieht und daß man vielleicht auch besser versteht, welche Aufgaben dem Recht in der gegenwärtigen Gesellschaft zukommen.

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