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Revolutionäres Schmuggelgut an den Hochschulen?

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Die Errichtung eines Lehrstuhls für Politikwissenschaft an der Universität Salzburg, die Gründung einer „österreichischen Gesellschaft für Politikwissenschaft“ sowie die geplante Einführung einer politik-wissenschaftlichen Studienrichtung haben die Aufmerksamkeit einer breiteren Öffentlichkeit auf ein Fach gelenkt, das erst mit einiger zeitlicher Verspätung und in einem gegenüber vergleichbaren Ländern als Nachziehverfahren zu betrachtenden Durchgang Bürgerrecht auf akademischem Boden zugestanden erhält.

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Die Errichtung eines Lehrstuhls für Politikwissenschaft an der Universität Salzburg, die Gründung einer „österreichischen Gesellschaft für Politikwissenschaft“ sowie die geplante Einführung einer politik-wissenschaftlichen Studienrichtung haben die Aufmerksamkeit einer breiteren Öffentlichkeit auf ein Fach gelenkt, das erst mit einiger zeitlicher Verspätung und in einem gegenüber vergleichbaren Ländern als Nachziehverfahren zu betrachtenden Durchgang Bürgerrecht auf akademischem Boden zugestanden erhält.

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Die Politikwissenschaft ist keine Disziplin, die sich über einen Mangel an Publizität beklagen könnte, sie partizipiert an der Natur des von ihr erforschten Gegenstandes und muß daher auf kritische Durchleuchtung ihres Angebotes gefaßt sein. Sie braucht dieses Interesse auch nicht zu scheuen, muß sich allerdings gegen Mißverständnisse, die ihren Aufgabenbereich umlagern, zur Wehr setzen un . dort aufklärend wirken, wo Legendenbildungen eine gerechte Würdigung ihrer Leistungen und Intentionen verhindern.

Integration

Das Mißtrauen gegen die Politikwissenschaft hat eine zweifache Wurzel: die eine nährt sich aus der Substanz der traditionellen, benachbarten akademischen Disziplin und artikuliert sich in dem immer wieder lautwerdenden Verdacht, daß die Politikwissenschaft eine entbehrliche, schon durch die bisherigen wissenschaftlichen Möglichkeiten eingeholte Modeschöpfung sei, die überdies einer verläßlichen methodischen Grundlage ermangle. Diese Auffassung übersieht, daß šieji die Politikwissenschaft nicht zufällig und unabhängig vom Ehrgeiz der Bahnbrecher dieser Disziplin aus den Notwendigkeiten der modernen Demokratie mit ihren komplizierten Mechanismen entwickelt hat und ihren Aufstieg dem Umstand verdankt, daß es unumgänglich geworden ist, die sozialen Prozesse, die auch von der Soziologie, der Nationalökonomie und der juristischnormativen Betrachtung erfaßt werden, unter einem gewissen Formalaspekt, dem der Ausübung von Macht und Herrschaft, der Kanalisierung gesellschaftlicher Wertkonflikte, in Augenschein zu nehmen, weil andernfalls ein wesentlicher Aspekt der Erfassung der gesellschaftlichen Gesamtwirklichkeit außer acht gelassen würde. Die Politikwissenschaft ist eine Integrationswissenschaft, die ihre Methoden und Forschungsgegenstände von bereits etablierten Disziplinen entlehnt, sie aber in eigener Sache und in spezifischer Absicht so weit umprägt, als es zur Erfüllung ihres Grundanliegens, die gesellschaftliche Ent- scheidungsproblematik in ihren institutionellen Verflechtungen zu reflektieren, erforderlich ist. Der Methodenpluralismus, der die Politikwissenschaft historisch, spekulativ und empirisch erhebend verfahren läßt, ist kein Zeichen der Unsicherheit, sondern nur ein Ausdruck dafür, daß sich die Methoden nach dem Gegenstand zu richten haben und daher keine Bedenken bestehen, dort eine Kombination von Methoden einzusetzen, wo der Forschungsgegenstand dies verlangt. So angebracht der Methodenmonismus und -Purismus in anderen wissenschaftlichen Bereichen sein mag — in der Politikwissenschaft ist er fehl am Platz und stellte keinen Vorzug, sondern eine Verengung und Vereinfachung der Problematik dar. Die Politikwissenschaft ist nicht zuletzt auf Grund dieses konzentrierten und variablen methodischen Einsatzes in der Lage, Ergebnisse zu liefern, die die Disziplinen, von denen sie sich losgelöst hat, bereichern und sie so für die allenfalls eingetretene Schmälerung ihrer Kompetenz entschädigen. Im Kosmos der geistigen und wissenschaftlichen Durchdringung der Erfahrungswelt gibt es immer wieder Verselbständigungen und Freisetzungen neuer Sichtweisen, die das Gefüge des Wissenschaftssystems in Unordnung bringen, gerade durch diesen Zwang zur Umstellung und Neuorientierung aber eine heilsame und selbstkritische Abklärung von Umfang und Instrumentarium der Einzeldisziplinen fördern und einer besseren Erfassung der Wirklichkeit insgesamt dienen.

Engagement für Veränderung

Die zweite, weniger subtile und wissenschaftstheoretische Wurzel des gegen die Politikwissenschaft vielfach noch bestehenden Mißtrauens hängt mit den ihr zugeschriebenen politischen Wirkungen zusammen. Ist die Politikwissenschaft schon auf Grund ihres Naheverhältnisses zu einer der Öffentlichkeit ausgesetzten Sphäre eines größeren Interesses sicher, als sie sich andere akademische Disziplinen erfreuen dürfen, so steigert sich dieses kritische Interesse, wenn die Politikwissenschaft nicht bloß registriert und systematisiert, was sich in der Sphäre des Politischen begibt, son- dem wenn sie auch ihrerseits politisierend auf die Gesellschaft oder einzelne Segmente derselben einwirkt. Was liegt nun näher, als daß die Politikwissenschaft zunächst ihre Studenten und Hörer mit Begeisterung für ihren Gegenstand erfüllt und zu einer intensiven Beschäftigung, die nicht bei der Analyse von Zusammenhängen stehenbleibt, sondern zum Engagement für gesellschaftliche Veränderungen übergeht, anregt? Und da die Ideologie Herbert Marcuses und anderer Vertreter der „Neuen Linken“ gerade den noch gesellschaftlich standortgebundenen, „freischwebenden“ Intellektuellen und damit auch und vor allem die Studenten für prädestiniert hält, die wunden Punkte der gesellschaftlichen Ordnung aufzuspüren und bei ihnen anzusetzen, zieht die Politikwissenschaft im besonderen Maße den Verdacht auf sich, revolutionäres Schmuggelgut zur Zersetzung traditioneller Werte und Ordnungen zu sein. Dazu kommt, daß die seit Beginn der sechziger Jahre in allen Teilen der Welt, im besonderer, aber in

Frankreich und der Bundesrepublik Deutschland, aufgeflammten und keineswegs ganz verloschenen Studentenunruhen in einen kausalen Zusammenhang mit der Ausbreitung der Politikwissenschaft gebracht werden und der Eindruck erzeugt wird, daß die Politikwissenschaft allen beunruhigenden Entwicklungen Pate gestanden habe.

Dieser immer wieder in verschiedenen Variationen kolportierten Darstellung ist entgegenzuhalten, daß es kurzschließend und methodisch unzulässig ist, aus der Gleichzeitigkeit von Entwicklungen und Phänomenen auf deren kausale Abhängigkeit voneinander zu schließen, wenn nicht zwingende empirische Regelmäßigkeiten die Annahme einer solchen kausalen Korrelation erfordern. Und selbst wenn ein solcher Kausalzusammenhang nachweisbar wäre, bliebe die Frage zu klären, ob es sich bei dem als Ursache angenommenen Element der Wirklichkeit nicht seinerseits um die Wirkung tieferliegender Ursachen handelt, das im Kausalmechanismus wohl die Funktion eines auslösenden Momentes übernimmt, selbst aber nicht aus dem Be- dingungszusamimenhang isoliert und hypostasiert werden darf. Im übrigen ist es gar nicht der Fall, daß die politikwissenschaftlichen Lehr kanzeln und Institute die Pflegestätten und Ausgangspunkte der kritisierten Entwicklung der Studentenbewegung waren, ein über den Verdacht der Sympathien mit der „Neuen Linken“ _ erhabener Zeuge und Leidtragender der Berliner und bupdesrepufoljkanischęn, Vorgänge,

Professor Ernst Fraenkel, hat einer die Politikwissenschaft denunzierenden Legendenbildung entgegengewirkt und festgestellt, daß die Zentren der studentischen Protestbewegung ihren Ursprung in anderen Fachgebieten, so der Theaterwissenschaft und der Germanistik, hatten.

Garantie für eine „wissenschaftliche“ Politik?

Doch selbst wenn die gegen die Politikwissenschaft undifferenziert erhobenen Vorwürfe im vollen Umfang zuträfen, wäre dies kein Grund, der Ausbreitung der Politikwissenschaft Hindernisse zu bereiten. Waren administrative Versuche, unerwünschte Erkenntnisse fernzuhal- ten, in der Geschichte des menschlichen Geistes seit jeher immer nur Verzögerungsmanöver, so ist es in der Welt von heute mit ihrer Explosion von Information und Kommunikation weniger denn je möglich, ein mögliches Angebot unter Hinweis auf die befürchteten schädlichen Wirkungen zu unterbinden.

Im übrigen lehrt die Wissenschaftsgeschichte, daß die Wirkungen zusätzlicher Erkenntnisse nie eindeutig und bequem handhabbar sind, sondern, daß durch Erkenntnisprozesse eingeleitete Entwicklungen eine eigengesetzliche Dynamik entfalten, und die Einseitigkeiten und Überspannungen, wie sie für alle um ihren Standort und ihr Selbstverständnis ringenden Bewegungen und Deutungsversuche charakteristisch sind, in einem dialektischen Prozeß korrigiert werden.

Freilich .darf diese optimistische Überzeugung, daß der wissenschaftliche Fortschritt in einer Irrtümer und Irrwege eliminierenden Weise verläuft, nicht dazu verleiten, die Entwicklung ihrem guten Stern zu überlassen und nicht selbst aktiv dazu beizutragen, um die Möglichkeiten einer optimalen Entwicklung zu fördern.

Eine nicht zu unterschätzende Gefahr besteht darin, daß der Politikwissenschaft zugemutet wird, die Garantie für eine wissenschaftliche Politik zu übernehmen und die Legitimationsbasis für eine bestimmte politische Willensbildung und Entscheidung zu liefern. Besonders totalitäre Systeme, die von einer vorgegebenen Einheit von Theorie und Praxis ausgehen, neigen dazu, die Wissenschaft in dieser Absicht zu bemühen und ihren eigenen Intentionen dienstbar zu machen. Da die Politikwissenschaft ohne ein Minimum an kritischem Instrumentarium jedoch undenkbar ist, ziehen es die totalitären Systeme im allgemeinen vor, es gar nicht auf den Versuch der Manipulation eines so gefährlichen Instrumentes ankommen zu lassen und die Etablierung einer selbständigen Politikwissenschaft zu verhindern. Eine offizielle Partei- und Staatsideologie leistet bessere und sicherere Dienste als eine Politikwissenschaft, die es erst zu denaturieren und ihres Rückhaltes zu berauben gilt.

Distanz zur Macht

Die Politikwissenschaft ist daher nicht bloß ihrer Entstehung, sondern auch ihrer permanenten kritischen Funktion nach mit der Demokratie verbunden, die gleich der Wissenschaft einer ständigen Kontrolle und Korrektur unterworfen bleiben muß. Doch auch innerhalb der nicht totalitären Demokratie drohen der Politikwissenschaft Gefahren und gibt es Bestrebungen der Machthaber, sie als Begründung ihrer Entscheidungen zu vereinnahmen oder als kritische Instanz zum Schweigen zu bringen. Um beide Gefahren abzuwehren, muß die Politikwissenschaft in einer Distanz zur Macht bleiben, weil sie durch Identifizierung mit ihr und Abhängigkeit von ihr ihren Gegenstand, der ein Gegenüber bleiben muß, verliert und ihren spezifischen Auftrag, Entwicklungstrends zu extrapolieren und vernachlässigten Elementen der Wirklichkeit Beobachtung zu verschaffen, verfehlt. Der Politikwissenschaftler ist nicht in der Lage und nicht befugt, dem Politiker die Last der Entscheidungen abzunehmen, seine Funktion erschöpft sich aber auch nicht bloß darin, die Risken einer erfolgten oder bevorstehenden Entscheidung aufzuzeigen, er ist vielmehr berufen, auf Gefahren und Momente hinzuweisen, die verdrängt werden und als Alibi dienen, er ist ferner berufen, auf anstehende Probleme aufmerksam zu machen und den Politiker in die Lage zu versetzen, auf Fragen von öffentlichem Interesse ohne Zeitdruck, der die Entscheidungsmöglichkeiten verengt, zu reagieren. Der Politikwissenschaftler sollte daher im Idealfall für öffentliche Angelegenheiten engagiert, aber nicht auf ein bestimmtes tagespolitisches Interesse fixiert sein. Sowohl zu große Nähe zu wie zu große Entfernung von seinem Gegenstand hindern ihn daran, seine Funktion in einer Weise wahrzunehmen, die sowohl seinem wissenschaftlichen Eros und Ethos als auch seinem Öffentlichkeitsauftrag gerecht wird. Der Politikwissenschaftler kann das Bedürfnis des Politikers, von ihm direkte Schützenhilfe zu erhalten, nicht befriedigen, er darf dem Politiker aber auch nicht das Gefühl geben, einem selbstherrlichen Dezisionismus huldigen zu dürfen, sondern muß ihm im Gegenteil ständig das Bewußtsein vermitteln, durch den Politikwissenschaftler mit einer kritischen Instanz konfrontiert zu sein, die den Mechanismus der Macht gut genug kennt, um sich weder auf Gedeih und Verderb mit ihr zu verbinden, noch auch gänzlich aus ihr herauszuhalten und damit einen Faktor potentieller Kontrolle lahmzulegen.

Der Politikwissenschaftler soll sich also weder in die Rolle eines Fachmannes, der bloß um das Funktionieren der Macht, nicht aber um ihre Inhalte Bescheid weiß, abdrängen, noch auch in die Rolle eines Experten, der den Politiker ersetzen oder legitimieren kann, hineindrängen lassen, sondern soll unbeirrt von diesen verlockenden, ihn aber seiner eigentlichen Aufgabe entfremdenden Möglichkeiten eine Mittelposition einnehmen, die in diesem Fall nicht das Ergebnis eines faulen Kompromisses, sondern die ihm adäquate Position ist, die ihn vor den Engpässen falscher Alternativen bewahrt.

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