6787737-1970_20_15.jpg
Digital In Arbeit

Der Lochkartenvirus geht um

19451960198020002020

Uberblickt man die wissenschaftstheoretischen Überlegungen und Tendenzen, die augenblicklich der geisteswissenschaftlichen Forschung zugrunde liegen, so fällt recht bald auf, daß auf den meisten Gebieten das Denken in historischen Kategorien entweder abgelehnt oder aber mehr oder weniger stark in Frage gestellt wird. Wo wir hinschauen, ob in der Literaturwissenschaft — von Staigers „Interpretations“-Methode bis zur Strukturanalyse und zum „New Criticism“ —, ob in der Sprachwissenschaft, der Anthropologie oder der Volkskunde, ob in den Wirtschaftswissenschaften der Soziologie oder der Politologie, überall stoßen wir auf den gleichen Hang zu synchronisch-quanti-tativen Betrachtungsweisen. In Extremfällenauf verschiedenen Gebieten sind sie so zahlreich, daß es zugleich die Normalfälle sindgrassiert die Zählmanie, der Lochkartenvirus und die Computerbefangenheit.

19451960198020002020

Uberblickt man die wissenschaftstheoretischen Überlegungen und Tendenzen, die augenblicklich der geisteswissenschaftlichen Forschung zugrunde liegen, so fällt recht bald auf, daß auf den meisten Gebieten das Denken in historischen Kategorien entweder abgelehnt oder aber mehr oder weniger stark in Frage gestellt wird. Wo wir hinschauen, ob in der Literaturwissenschaft — von Staigers „Interpretations“-Methode bis zur Strukturanalyse und zum „New Criticism“ —, ob in der Sprachwissenschaft, der Anthropologie oder der Volkskunde, ob in den Wirtschaftswissenschaften der Soziologie oder der Politologie, überall stoßen wir auf den gleichen Hang zu synchronisch-quanti-tativen Betrachtungsweisen. In Extremfällenauf verschiedenen Gebieten sind sie so zahlreich, daß es zugleich die Normalfälle sindgrassiert die Zählmanie, der Lochkartenvirus und die Computerbefangenheit.

Werbung
Werbung
Werbung

Zum Teil läßt sich dies durch etwas erklären, das man den Freudschen Vaterkomplex innerhalb der Geisteswissenschaften nennen könnte. Es sind nämlich die Historiker gewesen, die als erste streng wissenschaftliche methodische Prinzipien entwickelten und mit dem historischen Positivismus ein Forschungsinstrument schufen, dessen sich nach und nach, mit dieser oder jener Anpassung, alle Geisteswissenschaften bedienten. Sprachforschung, Volks- und Völkerkunde, Literaturwissenschaft, Nationalökonomie und Politologie, ihnen allen schlug zu einem gewissen Zeitpunkt die historisierende Stunde. Alle wuchsen sie aus den Kinderschuhen zur Großjährigkeit am Gängelband der historisch-kritischen Methode. Und nun leiden viele von ihnen am Vaterkomplex und müssen den Vater töten, um sich selbst zu bestätigen. Ein psychologisch durchaus verständlicher Vorgang also. Was indessen nicht verhindert, daß er sehr bedauerliche Folgen zeitigt.

Sprechen wir von den Folgen. Man kann sie in einem Satz umreißen: Es besteht die akute Gefahr, daß die vom Zahlenvirus ins Computerfieber hochgepeitschten Disziplinen der Geisteswissenschaften, um einer größeren „Wissenschaftlichkeit“ willen, in letztlich völlig wissenschaftsloser Eindimensionalität verflachen.

Dies sei am Beispiel der Sprachwissenschaft illustriert: Bis zu den „Junggrammatikern“ war die sprachwissenschaftliche Methode genetisch-historisch gewesen und im Prinzipiellen nicht über Jacob GRIMM hinausgekommen. Einen ersten Ansatz zu einer sychronischen Betrachtungsweise brachten die „Junggrammatiker“, ohne daß sie indessen den historischen Standpunkt aufgaben. TROBETZKOY und SAUSSURE, die Väter der modernen Linguistik, brachen dann vollends mit der historisch-diachronischen Methode. Doch wahrten Trobetzkoy und die „Prager Schule“, durch die Annahme einer Wechselbeziehung zwischen Wort und Bedeutung — darauf beruht ja die Definition des Phonems — den sprachlichen Erscheinungen noch irgendwie ihren geschichtlichen Hintergrund. Isolation und Definition der Phoneme, die Beschreibung und Vergleichung der Strukturen, geschieht auf der Ebene synchronischer Zeitlosigkeit.. Aber: der Rückgriff auf die Semantik in der Verbindung von Zeichen und Bedeutung setzt trotz allem die Sprache wieder in ihre menschlichen Bezüge hinein und ermöglicht, vom Gehalt-lichen her, die Verknüpfung mit der Vergangenheit. Symptomatisch für unser Anliegen ist aber nun die Tatsache, daß gerade hier die amerikanische Lingustik durch BLOOM-FIELD mit der europäischen Sprachforschung brach. In BLOOMFIELDS Optik, wie derjenigen seiner Anhänger, wurde mit dieser semantischen Annahme auf außerlinguistische Kriterien zurückgegriffen. Damit hat die amerikanische Gegenwartslinguiistik die historische Dimenison vollends aufgegeben. Sprachprobleme werden auf Strukturprobleme reduziert. Die Folge kann nur Einseitigkeit und eindimensionales Verständnis sein, weil Sprache nun einmal etwas Gewordenes ist und jede Sprache ihre Geschichte hat, die ihrerseits wieder in den großen Zusammenhang des Werdens und Wachsens der großen Sprachfamilien eingespannt ist. Im Bereich der Literaturwissenschaft können wir etwas ähnliches beobachten. Der „new criticism“, die Strukturanalyse und alle einzig und allein am Text orientierten Interpretationsmethoden waren insofern wichtig und nötig, daß sie einen Ausweg aus der trockenen Pedanterie eines überspitzten Positivismus wiesen und die textfernen Höhenflüge einer exzessiven geistesgeschichtti-chen Methode abbremsten und entlarvten. Dies führte zu einer heilsamen Besinnung auf den Text. Eine einseitig auf den Text beschränkte Interpretationsmethode, ohne jeglichen ' historisch-biographischen Rückbezug, wird aber nie zu einer umfassenden Deutung eines Stücks Literatur führen können. Literatur entsteht nun einmal in einer historischen Situation.

Die synchronischen Methoden der Geisteswissenschaften gehen, wie wir schon zeigten, auf einen Vaterkomplex dieser Disziplinen der Geschichte gegenüber zurück. Doch dies ist nur eine Teildiagnose, die nicht alle Symptome erklärt. So beispielsweise der Trend zur quantitativen Deutung, die Zahlenmanie in der Soziologie und ähnlichen Disziplinen. Sie wird verständlich aus jenem anderen Komplex, der den Kern der geisteswissenschaftlichen Neurose bildet, nämlich einem ausgesprochenen Minderwertigkeitsgefühl den Naturwissenschaften gegenüber. So suchte die Sprachwissenschaft beispielsweise nach einem Modell, dessen „Wissenschaftlichkeit“ über jeden Zweifel erhaben war und fand es bei der Mathematik. Die Mathematik kann indessen, ihrem Wesen nach, die unbedingt zum Sprachlichen gehörende historische Dimension nicht erfassen, und dieses Modell mußte notwendigerweise zu einer Ausweisung der historischen Betrachtungsweise aus dem Bezirk der Linguistik führen, weil sich innerhalb dieses Modells kein Platz für sie finden läßt. Geschichtliche Aus-und Einblicke sind also notwendigerweise — aber nur innerhalb dieses Modells — außerlinguistisch. Wenn wir uns in den methodischen Auseinandersetzungen der GeistesWissenschaften innerhalb der letzten 30 Jahre umblicken, so merken wir, daß überall ähnliches wie in der Sprachwissenschaft vor sich ging. Vorbehaltlos wurden synchronisch-quamtitative Methoden auf Gebiete übertragen, die wesentlich diachronisch-qualitative Aspekte haben. Und dies bedeutet für diese Disziplinen nicht mehr und nicht weniger als eitn Harakiri. Ein Harakiri zu dem, das alle tragikomischen Züge einer Harlekinade trägt. Eine Wissenschaft, die sich mit Gewordenem und Gewachsenem beschäftigt, und das tun alle geisteswissenschaftlichen Disziplinen, muß geschichtlichen Faktoren Rechnung tragen, wenn sie ihrem Gegenstand gerecht werden will. Dort aber, wo es um den Menschen und um zwischenmenschliche Beziehungen geht, ist dieser geschichtliche Faktor überall vorhanden. Man kann ihn nur hinweglügen ' oder hinwegzaubern. Damit ist aber weder dem Verständnis der zu deutenden Wirklichkeit gedient, noch der Wissenschaft, die sich deren Erhellung zur Aufgabe gemacht hat. Taschenspielertricks bleiben Taschenspielertricks, und das auch dort, wo sie sich als wissenschaftstheoretisches Uberlegen travestieren. Man kann den Menschen nicht aus seiner Geschichte herauslösen. Die Geisteswissenschaften aber beschäftigen sich wesentlich mit dem Menschen, darum nennt der Franzose sie ja auch „Sciences humai-nes“, und sie können und dürfen .deshalb nie der historischen Perspektive entsagen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung