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Kollektivpsychologie

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Obwohl das gegenüber dem einzelnen verschiedene Verhalten von Kollektiven schon Aristoteles und den Rhetorikern bekannt war, beginnt die eigentliche wissenschaftliche Kollektivpsychologie mit Gustave Le Bons „La psychologie des foules” („Psychologie der Massen”), erschienen 1895 in Paris. Zusammen mit Gabriel Tarde und Scipio Sighele schuf Le Bon eine erste Bewegung der Kollektivpsychologie, die Massenpsychologie, welche eine teilweise weitgehende Beachtung fand.

Dieser älteren Richtung der Kollektivpsychologie gemeinsam ist vor allem die Erkenntnis, daß die „Masse” etwas Schreckenerregendes und Zerstörendes sei, was aber verständlich wird, wenn man bedenkt, daß die Massenpsychologie ihre Schlüsse hauptsächlich aus der Betrachtung von Revolutionen, Kriegen, Demonstrationen und Streiks gezogen hatte. Ihre Ergebnisse können in vier Punkten zusammengefaßt werden, die auch heute noch gültig sind, wenn man unter Masse, von Leidenschaften erhitzten Pöbel meint.

1. Anonymität: Das individuelle Reagieren wird durch nur triebhaftes, instinktmäßiges Reagieren ersetzt.

2. Gefühlsbestimmtheit: An die Stelle der Vernunft treten Gefühl und Trieb, woraus sich die große Beeinflußbarkeit ergibt, da ja nicht mehr aus Einsicht und Überlegung, sondern aus Affekten heraus gehandelt wird.

3. Schwinden der Intelligenz: Die Intelligenz der Masse sinkt unter das Niveau des einzelnen. Wer sich der Zustimmung der Massen versichern will, muß auf logische Argumente verzichten und sich an der untersten Intelligenzgrenze orientieren. Diese beiden Punkte waren offenbar schon Aristoteles bekannt: „Gefühlen kann man nur ein stärkeres Gefühl gegenübersetzen, aber nicht die Vernunft.”

4. Schwinden der persönlichen Verantwortung: Indem der einzelne die Kontrolle über seine Leidenschaften auf gibt, verliert er sein Verantwortungsgefühl und kann zu Taten hingerissen werden, die er allein im Blickpunkt der Öffentlichkeit nie begehen würde.

Angewandte Massenpsychologie

Masse bedeutet also Chaos, einen Zustand der Vielheit, die sich selbst keine Ordnung und Struktur geben kann und auf den formenden Druck von außen angewiesen ist. Es wird daher verständlich, daß sich das deutsche Wort „Masse” von dem griechischen Verbum „¡taooeiv” (kneten) und das romanische „foule” und „folla” von dem lateinischen „fullo” (Tuchwalker) ableiten.

Daraus ergibt sich weiter die Bereitschaft, sich einem Führer mit möglichst das Gefühl und die Instinkte ansprechenden magischen Ansprüchen zu unterwerfen. Sowohl Le Bon als auch S. Freud vergleichen daher den Menschen in der Masse mit dem Angehörigen der barbarischen Urhorde, und letzterer, die Erkenntnisse der Psychoanalyse auf die Massenpsychologie anwendend, deutet dieses Verhalten als Regression in einen früheren Entwicklungszustand und sieht in dem Massenführer einen Vaterersatz. (S. Freud: „Massenpsychologie und Ichanalyse”, 1921.)

Obwohl Freud die affektive Bindung der Masse an ihren Führer in den Vordergrund stellte, muß er doch auch gewisse, für die Massenbildung notwendige strukturelle Bedingungen anerkennen, auf die aber auch schon Le Bon hingewiesen hat, wenn er von Massenströmungen spricht und damit das meint, was man später kollektives Verhalten nennt. Eine gewisse Vorverbundenheit — zum Beispiel gleiche materielle Interessen — ist notwendig, damit es zu der für die Massenbildung notwendigen Nachahmungstendenz kommt. Gegenüber der Anerkennung solcher struktureller Elemente fand der 1916 von W. Totter aufgezeigte „Herdentrieb” weniger Beachtung.

Wie stark sich aber auch hier tiefenpsychologisch erklärbare Zusammenhänge finden lassen, zeigt sich vielleicht am besten in der Entdeckung des „Kollektiv-Unbewußten” durch C. G. Jung, der sich in seinen Ansichten über Kollektive aber doch noch weitgehend mit jenen der Massenpsychologie deckt, wenn er schreibt: „Eine große Gesellschaft, aus lauter trefflichen Leuten zusammengesetzt, gleicht an Moralität und Intelligenz einem großen, gewalttätigen Tier.”

Diese eindeutig negative Bewertung des Kollektivs als Masse ist aber vielleicht auch aus der Revolte des spätbürgerlichen Individualismus gegen die Gefahr der „Vermassung” zu ver-

stehen, welchen Begriffes sich die Kulturkritik seit Nietzsche gerne bediente und die Goethe mit den Worten des Mephisto in der klassischen Walpurgisnacht: „Du glaubst zu schieben und wirst geschoben”, vorwegnehmend umschrieben hatte.

Vielleicht ist es in diesem Zusammenhang auch wichtig, zu erwähnen, daß der stets abfällig gemeinte Begriff „Pöbel”, von dem lateinischen „populus” (Volk), bereits im 16. Jahrhundert entstand, in der Zeit der Renaissance und der Reformation, in jener Geschichtsepoche also, die

J. Burckhardt als die der „Entdeckung des Individuums” bezeichnet hatte und in der es zur Auflösung der mittelalterlichen Gruppenordnung gekommen war.

Das Leben spielt sich in Gruppen ab

Ein neuer Aspekt der Kollektivpsychologie tritt erst mit der Entdeckung der „Gruppe” in Erscheinung. Hatte Le Bon in dem einzelnen noch den „Angehörigen eines großen barbarischen Haufens” gesehen, so sieht Ortega y Gasset in ihm bereits den „Inhaber einer kleinen Kompetenzdomäne innerhalb einer durchkonstruierten Gruppe”. Als Gruppe, in Unterscheidung zur Masse, bezeichnet man eine Anzahl von Organismen, deren Verhalten einer wechselseitigen Steuerung unterliegt (R. Hofstätter). Daß sich der größte Teil des menschlichen Lebens in Gruppen — deren kleinste das Paar ist — ab spielt, hat ja schon Aristoteles veranlaßt, den Menschen als „Zoon politikon” zu bezeichnen.

Diese neue Richtung der Kollektivoder Sozialpsychologie wird heute, in klarer Unterscheidung zur älteren Massenpsychologie, meist als Gruppendynamik bezeichnet. Dieser Ausdruck geht auf den Gestaltspsychologen

K. Lewin (1890 bis 1947) zurück, der auch in der Gruppe die weitgehende Unabhängigkeit des Ganzen von seinen jeweiligen Teilen sah, welche Eigenheiten Christian von Ehrenfels (in Rodaun geboren, aber in seiner Heimat sehr zu Unrecht weitgehend vergessen) 1890 als Gestaltsqualitäten bezeichnet hatte. Mit der auf Platon, Aristoteles und auch Laotse zurückgehenden These, daß das Ganze mehr sei als die Summe seiner Teile, begründete er die Gestalts- oder Ganzheitslehre, die sich vor allem auf die Psychologie befruchtend ausgewirkt hat, aber auch und vor allem durch die „universalistische Soziologie” O. Spanns in die Soziologie Eingang gefunden hat.

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