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Thesen zum Dialog

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CHRISTENTUM, GESELLSCHAFT, SOZIALISMUS — Thesen zum Dialog. Von Ludwig Reichhold. Verlag Herder, Wien, Freiburg, Basel. 329 Seiten, kart. S 106.—.

In 28 Thesen unternimmt Ludwig Reichhold einen ungemein markanten Versuch zur Klärung der verschwommenen und schon fast ausgeschriebenen Begriffe, die zur Stellungnahme provozieren. Reichhold gehört zu jenen österreichischen Persönlichkeiten des politischen Publizismus, die auf spektakuläre Aufwind-Publicity außerhalb ihrer Bücher verzichten. Um so mehr wird die Beschäftigung mit der Materie am Schreibtisch klar, die Sachwissen, historisches Bewußtsein und politisches Gefühl verrät, ohne auf Höhenflüge in den Bereich der Spekulation zu verzichten. Nur weiß man bei Reichhold, wo diese Spekulation aufhört, während Autoren der gleichen Thematik aus anderen geistigen Schichtungen gar kein Interesse zeigen, Ernstes von Quatsch, geistigen Höhenflug von abgegriffenem Ressentiment zu trennen.

Reichhold unternimmt in seinen ersten Thesen den Versuch, die Problematik nicht erst im vorigen Jahrhundert anzusiedeln, sondern die Wurzeln erheblich weiter zurück zu verfolgen: Das Christentum hat die Sozialordnung bis zur ersten industriellen Revolution durch Jahrhunderte bewußt und gewollt antikapitalistisch beeinflußt, ja wesentlich gestaltet. Der Sieg des Frühkapitalismus über die mittelalterliche „Genossenschaftsidee” ist nur durch den Rückzug des Christentums aus der Gesellschaft möglich gewesen. So entwickelt sich ab dem 19. Jahrhundert die Wirtschaft abseits der christlichen Ethik — Urkeim für die Forderung nach der Verbannung der Kirche in die Sakristei. Das 19. Jahrhundert wird zu einer unchristlichen, inhumanen Gesellschaft. Und die einflußlose Kirche darf angesichts neuer Ideologien nicht für die Exzesse des Kapitalismus verantwortlich gemacht werden. Die Kirche emigriert immer mehr aus dem gesellschaftlichen Kräftespiel.

So sind bis heute die sich auf die christliche Soziallehre stützenden Bewegungen antikapitalistisch. Nicht durch Pragmatismus (wie der demokratische Sozialismus) gegenüber dem Kapitalismus, sondern durch die Aussagen über die rechtliche Natur von Kapital und Arbeit wird das Christentum zum eigentlichen Träger jedei Sozialpolitik. Die Überwindung des Kapitalismus ist und bleibt das erklärte Ziel der christlichen Soziallehre. In Westeuropa hat sich auch seit der ersten industriellen Revolution die soziale Entwicklung so weitgehend in Übereinstimmung mit der christlichen Soziallehre entwik- kelt, daß diese geradezu als Ausdruck jener erscheint. So hat sich nicht das Christentum zum Sozialismus hin entwickelt, sondern umgekehrt: es ist zur Anpassung des Sozialismus an die christliche Soziallehre gekommen.

Die wirtschaftliche und soziale Entwicklung Westeuropas weist heute zwar Einsprengsel liberaler und sozialistischen Ursprungs auf — doch in der historisdien Wirklichkeit haben sich sowohl die Grundsätze als auch die Vertreter des christlichen Gesellschaftsbildes durchgesetzt. Der Sozialismus ist in seiner revisionistischen Spielart im heutigen freien Europa „Mitvollzieher”. Er wird sich aber nur dann halten können, wenn er sich auch die geistigen und religiösen Voraussetzungen des Christentums aneignet. Damit wird auch die Grenzziehung zum Kommunismus klar, der durch seinen eigenen Weg zur inhumanen Gesellschaft werden mußte.

Das Spannungsverhältnis zwischen Sozialismus und Christentum gehört deswegen der Vergangenheit an, weil der Sozialismus seine „Ideologie des Proletariats” aufgegeben hat und die Metamorphosen der Gesellschaft in diesem Jahrhundert vollintegriert mitgemacht hat. Die zweite industrielle Revolution macht daher eine enge Zusammenarbeit möglich, weil sich die ideologischen wie soziologischen Verhältnisse geändert haben. Die Bewältigung der Menschheitsfragen wird für beide Komponenten zu einer neuen Herausforderung unter neuen Voraussetzungen.

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