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Prolet-Romantik

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Zu den nur schwer verständlichen Merkwürdigkeiten der Gegenwart gehört die Reideologisierung in der Politik und im Bereich dessen eine bis zur Faszination reichende Befas-sung mit dem Marxismus. Eine Ideologie, welche durch die tatsächliche Entwicklung des sozialen Lebens wiederlegt wurde, scheint so eine Renaissance zu erleben. Diese Tatsache ist als Reaktion auf den politischen Pragmatismus verständlich, der in den USA um die Mitte dieses Jahrhunderts entstand und dann später auch auf Europa übergriff; es erhebt sich aber die Frage, warum diese Reaktion gerade im Marxismus und keiner anderen Ideologie oder Weltanschauung ihre Zuflucht fand. Mit diesem aktuellen Problem beschäftigt sich Ludwig Reichhold in seinem jüngsten Werk, das für die Sozialphilosophie und Politikwissenschaft von gleicher Bedeutung ist.

In den drei Abschnitten seines Buches seziert Ludwig Reichhold unter Heranziehung einer umfangreichen Tatsachenkenntnis den proletarischen Mythos, deckt den Weg vom Revolutionsmythos zum Revisionismus auf und läßt den Abschied von der proletarischen Illusion deutlich werden. Geradezu tragisch muten die Feststellungen und Erkenntnisse an, daß das Proletariat ein Werkzeug der Intellektuellen war, somit weder Initiator noch Befreiter von Revolutionen war, die es vor und nachher nur als manipulierte Klasse, manchmal sogar nur als politische Randfigur erlebte. Dabei zeigt Reichhold mit erschütternder Deutlichkeit den Weg des Marxismus in der Geschichte der kommunistischen Parteien, besonders jener der Sowjetunion. Treffend gelingt es ihm, den logischen und tatsächlichen Widerspruch zwischen ihrer ideologischen Ausgangsposition und ihrer revisionistischen Praxis zu veranschaulichen.

Aus der Sicht Reichholds kann daher die sogenannte Neue Linke unserer Tage auch als Reaktion auf den Konservatismus des revisionistischen Marxismus angesehen werden, bei welcher die Begriffe der Konsumgesellschaft als Ersatzbegriff für die kapitalistische Klassengesellschaft, die antiautoritären Strukturen für die klassenlose Gesellschaft und letztlich die außerparlamentarische Opposition als Ersatz für die anarchistische Revolutionsidee verwendet werden. Auf diese Weise erkennt Ludwig Reichhold in der Ideologie der Neuen Linken alle Begriffe wieder, die schon das 19. Jahrhundert gekennzeichnet haben, weshalb für ihn die Revolte der Neuen Linken eine „konservative Revolution“ ist. Wie immer man diese Tatsache zu werten imstande ist, sie sollte auf jeden Fall zu denken geben und die Frage beantworten helfen, warum eine Utopie als Reaktion auf den Pragmatismus eine derartige Faszination ausübt und Ideologien und Weltanschauungen, welchen mehr Realismus eignet, überhaupt nicht oder weniger beachtet werden. Auf diese Weise gibt die ideen- und tatsachenreiche Schrift Ludwig Reichholds in einer Zeit des Suchens Wertvolles und Notwendiges zum

Denken, was ihn den Dank und die Anerkennung aller verdienen läßt, denen der Fortschritt in der praktischen und theoretischen Politik ein Anliegen ist.

ABSCHIED VON DER PROLETARISCHEN ILLUSION, DAS ENDE EINES REVOLUTIONÄREN MYTHOS. Von Ludwig Reichhold. Josef Knecht, Frankfurt am Main 1972, 265 Seiten.

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