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Weiß die Historie, wie es gewesen ist?

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„Dead men teil no tales”, sagt der Engländer und drückt damit zuerst gewiß eine banale Wahrheit aus. Die Toten schweigen! Ausgegrabene Schädelreste, zerbrochene Oberschenkelknochen, einige Zähne und, hatte man sehr viel- Glück, bestimmbare Kulturreste in zeitlich-geologisch halbwegs genügend fixierten Ablagerungen — dies alles spricht nicht unmittelbar zum Menschen, es erscheint ihm zuerst stumm. Ja, dem Laien scheint es fast, als hätte die Wissenschaft vollkommen freie Hand in der Deutung solcher Funde. Daß heute jedoch die Dinge anders liegen, ist wahrscheinlich schon beinahe jedem Schulkind bekannt . Unbekannt ist allerdings nicht nur in Laien-, sondern anscheinend auch in wissenschaftlichen Kreisen, daß viel mühevolle Arbe und methodische Kenntnisse nicht nur im Bereiche der eigenen, sondern auch der benachbarten Disziplinen, zur richtigen Deutung „Diluviale Menschenfunde und Urgesdiichte”, „Warte”, Nr. 18, 1. Mai 1948. von Funden ajler Art nötig sind, zum richtigen Verständnis jener Sprache, der sich längst vergangene Generationen bedienen, um sich uns mitzuteilen.

In der Deutung der mittelbaren Sprache der fernsten Vergangenheit, des „stummen” Ausgrabungsmaterials also, gebührt vor allem einer historischen Disziplin, der Urgeschichte, die erste Stimme, aber natürlich nur dann, wenn sie uns den Beweis eines methodischen Vorgehens zu erbringen vermag. Daß dies leider nicht immer der Fall ist, daß es beute Richtungen gibt, die, den Mangel an methodischen Einsichten durch autoritäre Berufung auf ihre „Legitimation” verdeckend, vielmehr dazu neigen, disziplinfremde Theorien durch entsprechende Deutung eigener Forschungsergebnisse zu stützen, ist zu bedauern. Außerdem müßte es nicht nur jedem Naturwissenschaftler, sondern auch jedem Historiker klar sein, daß der Begriff einer Hypothese, die so fest fundiert ist, daß sie keine Neuentdeckungmehr in Zweifel stellen kann, aber etwa zugleich die vorläufige körperliche Geschichte einer Tierreihe darstellt, eine contradictio in adjecto enthält. Im übrigen würde die Abstammungsreihe des Menschen: Anthro- pus-, Primigenius-, Sapiensfossilisform, die auch von Seite der Urgeschichte immer wieder vorgetragen wurde, einzig und allein eine Verbindung zwischen Mensch und Tier darstellen, wenn sie überhaupt einer tatsächlichen Entwicklung entsprechen würde; niemals jedoch einerseits eine unüberbrückbare Kluft zwischen beiden Reihen aufzeigen — und andererseits eine Einigung mit den extremsten Richtungen herbeiführen können.

Doch sprechen die Toten nur mittelbar zu uns? Ist es nicht vielmehr so, wie C. F. Meyer den „Chor der Toten” sagen läßt:

„Und was wir vollendet, und was wir begonnen,

Das füllt noch dort oben die rauschenden Bronnen

Und all unser Lieben und Hassen und Hadern,

Das klopft noch dort oben in sterblichen Adern!”?

Ja, die Toten sprechen unmittelbar zu uns, sie sprechen aber nicht nur in schönen Dichtervisionen, die uns ein begnadeter Künstler mitzuteilen vermag: vom Heer der Dahingeschiedenen übernahmen wir sowohl unsere Tradition wie auch unsere physischleibliche, ja psychophysische Organisation — und nur der prinzipiell freie Geistwille kann uns bis zu einem gewissen Grade einerseits von den Fesseln des Dumpf-Organisch- Materiellen und Vegetativpsychischen — und andererseits von den möglichen Auswüchsen einer Tradition befreien. (Auf dieser Möglichkeit gründen übrigens alle sittlichen Lehren, sei es religiöser oder philosophischer Natur.)

Die unmittelbare Sprache der vergangenen Generationen, welche prinzipiell bis in die Uranfänge verfolgt werden kann, ist auch für die Wissenschaft erfaßbar, und zwar sowohl für die Natur- wie auch für die Geisreswissenschaften. Ihre genaue Erfassung und Wiedergabe mit wissenschaftlichen Mitteln aber ist nicht weniger schwer und mit fast mehr Verantwortung beladen als die Deutung der stummen Funde.

Die Naturwissenschaft beiseite lassend, wenden wir uns der Frage zu, inwiefern und durch welche’Mittel die Historie befähigt ist, unmittelbare Zeugnisse der Vergangenheit deutend, uns sichere Erkenntnisse darüber zu vermitteln, wie es einmal wirklich gewesen ist, und zwar insbesondere in jenen zeitlichen Tiefen, in welchen sich das Menschwerden abgespielt haben muß.

A. Feder rechnet die sprachliche Überlieferung zu den redenden oder wissenden Quellen, „welche mit dem Gegenstand auch in der logischen Ordnung verbunden sind”. Die älteste menschliche, mündliche Überlieferung aber gehört zum wissenschaftlichen Gegenstand der Ethnologie, jener historischen Disziplin, die sich mit der Erforschung der sogenannten Naturvölker oder Primitiven befaßt, die in manchen Kulturschichten Teilkomplexe der Urübttlieferung relativ rein aufbewahrt haben.

Die Wiener kulturhistorische Schule verfügt, wie allgemein bekannt und anerkannt ist, über methodische Einsichten, die, ein kritisch-historisches Vorgehen darstellend, sowohl ein relativ adäquates Erfassen von Kulturschichten wie auch eine im historischen Sinne verläßliche zeitliche Klassifikation ermöglichen. Da der knappe Raum eines Artikels die interessante und aufschlußreiche Behandlung der Wahrheitskriterien ethnologisch-historischer Urteile verbietet, können wir es nur andeuten. Nun betrachten wir jene Teilkomplexe menschlicher Überlieferung, die die Historie für die ältesten hält.

Die Völker der Urkulturstufe, die heute noch unter sehr primitiven äußeren Verhältnissen als Fischer, Jäger oder Sammler in unwirtlichen Gegenden der Erde ihr Dasein fristen, lassen sich nicht nur kulturhistorisch, sondern audt physisch-anthropologisch als Reste der ältesten Menschheit charakterisieren (die Anhänger der Dreistufenlehre würden einschränkend sagen: „… der ältesten Homosapiensgruppe ”). Alle diese weit voneinander lebenden Völker weisen mehrere wesentliche Übereinstimmungen ihrer religiösen und religionsmythologischen Vorstellungen auf, die die Geschichte nur aus einem gemeinsamen örtlichen und zeitlichen Ursprung erklären kann . Diese Übereinstimmungen sind: 1. ein relativ reiner Monotheismus; 2. die Überzeugung, daß die Men- scheh von Gott erschaffen sind; 3. eine Erinnerung an die ursprüngliche glückliche Zeit des Unsterblichseins und der Gottesnähe; 4. vielfach die Erinnerung an eine Schuld, die die Ursache des Zerfalles des ursprünglichen Verhältnisses Gott—Mensch ist; 5. sehr häufig die Vorstellung von der Gestalt des Widersachers Gottes, der beim menschlichen į,Sündenfall” mitwirkt. Stärkere magische Vorstellungen und Beziehungen magischer Natur zum Tier treten erst in den späteren Kulturstufen auf. Der „Widersacher” Gottes aber wird dort bald zum ersten Sterblichen, bald zum „Urmenschen” oder „Stammvater”.

Ein interessanter mythologischer Gedankenkomplex urkultürlichen Ursprungs ist das sogenannte Goldene Zeitalter des Ur- standes. Daß dieser Komplex den Anfängen der Antike nicht unbekannt war, ist schriftlich bezeugt (Hesiod). Dieser Komplex lebt als Märchenmotiv in der Volksdichtkunst mancher Hochkulturvölker bis heute weiter. Da sein Zusammenhang mit Punkt 3 der Aufzählung (der glücklichen Zeit des Ursprungs) unschwer zu erkennen ist, so ist es klar, daß hier ein sehr interessantes kultur- psychologisches Phänomen vorliegt, nämlich ein Fall der Abspaltung und Verselbständigung einer religiösep Vorstellung als Mythos (welche Vorstellung wohl auf empirische Realität zurückgeht, wie uns historischpsychologische Überlegungen anzunehmen zwingen), ihres gleichsam luxurierenden Daseins im neuen geistigen Medium der mythosliebenden und -bildenden Völkerphantasie und der endlichen Entrealisierung im Märchenmotiv.

Wir fassen zusammen, daß wir von der unmittelbaren Sprache der Vergangenheit, von der heute als der relativ ältesten gelten den Überlieferung ausgingen, die wir als zum wissenschaftlichen Gegenstand der Ethnologie gehörig bestimmten. In dieser ältesten Überlieferung, die aus gewissen, heute als religions-mythologisch anzusprechenden, einmal empirische Realität enthaltenden Gedankenkomplexen urkultürlichen Ursprung besteht, heben wir vor allem hervor einerseits eine in allen Urkulturen, also fast über die ganze Erde, verbreitete Auffassung, daß die Menschen erschaffen worden sind; und andererseits die Überzeugung, daß ein persönlicher Schöpfer Gott an diesem Akt direkt oder indirekt beteiligt war. Bei vielen anderen Kulturstufen aber finden wir den Komplex des Goldenen Zeitalters vor, dessen urkultürlicher Ursprung kaum zweifelhaft erscheint, entweder als Mythos für die Vergangenheit bezeugt oder als solcher noch heute wirksam — oder als Märchenmotiv. Diese Tatsachen legen die Vermutung nahe, daß der ganze religionsmythologische Komplex, dessen Teil das Motiv des Goldenen Zeitalters ist, einmal zum Kulturgut wohl aller Völker der Erde gehörte.

Ist nun in mühevoller, streng methodischer Arbeit das Entwirren und Ordnen der Kulturschichten, die sich in einer Überlieferung spiegeln, ist das Ermitteln der Kulturzugehörigkeit und des relativen Alters einer „redenden Quelle” gelungen (wir betonen auch hier unser Wissen um die nur relative Sicherheit eines jeden wissenschaftlichen Ergebnisses!); stehen nun endlich die Gedan- kcnkomplexe in logischer Klarheit da, so fragt sich der Forsdier: ,3in ich berechtigt anzunehmen, daß den als menschlich anzusprechenden Gedanken der längst vergangenen Generationen Realität in unserem Sinne entspricht?”

Es ist klar, daß diese Frage mit dem Problem der .historischen Wahrheit” aller mündlichen und schriftlichen Überlieferungen, ja aller historischen Quellen überhaupt zusammenfällt, dessen Lösung sich folgendermaßen wiedergeben läßt:

Wenn wir jenen Wesen, deren Aussagen (deren Kulturreste) wir prüfen,

a) dasselbe menschliche Denk- und Ausdrucksvermögen zugestehen wie uns selbst; wenn wir b) annehmen, daß in unseren wahren Urteilen eine Entsprechung zwischen Aussage und Realität stattfinden kann (wie wäre aber das, menschliche Leben auf der Erde während der Hunderttausende von Jahren ohne diese Entsprechung möglich gewesen?); wenn wir ferner c) annehmen können, daß die vergangenen Generationen im vorliegenden Fall uns ihre wahre Meinung über die in Rede stehenden Dinge überliefert haben (und warum sollten sie es in diesem Fall nicht getan haben?);

so müssen wir schließen, daß die geprüfte Überlieferung historische Wahrheit enthält, das heißt Urteile, die einmal gegenwärtig gewesene, heute der Vergangenheit angehörende, empirische Realität wiedergeben.

Doch was heißt „Entsprechung”, was heißt „Wahrheit”? Können wir denn überhaupt etwas wissen? — fragen diejenigen, die um jeden Preis zweifeln wollen, fragen der ewige „Widersacher”, der „Stammvater”, der „Urmennsch” unter uns und in uns, fragen Faust und Pilatus: „Quid est ve- ritas?”

Die Tatsache, daß der Römer diese Frage vor Der Wahrheit Selbst stellen konnte, läßt die Tragik des moderen Menschen in ihrer ganzen Tiefe ermessen.

Wir beabsichtigen hier weder eine Stellungnahme zu den Behauptungen der Dreistufenlehre noch zu diesen ihrer Gegner. Allerdings halten wir eine Auseinandersetzung der maßgebenden wissenschaftlichen Kreise mit den neueren fossilen Menschenfunden, die in der ausländischen Literatur ausführlich besprochen werden, für sehr wünschenswert.

,Wir geben hier einige der Hauptgedanken des Vortrages Prof. Köppers’ wieder: „Gedanken eines Ethnologen zum Abstammungs- prohlem”, gehalten in der anthropologischen Gesellschaft am 28. April 1948. Vgl. auch W. Köppers: „Ethnologie und Abstamnuings- frage”, „Warte” Nr. 21, 22, Mai 1948.

1 Die historische Bedeutung und kultur- psydiologisdie Bewertung des Komplexes „Goldenes Zeitalter” werden an einer anderen Stelle ausführlich besprochen werden.

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