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Einheitsgewerkschaft — ja oder nein?

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Im kontinentalen und demokratischen Sinn bedeutet Einheitsgewerkschaft Rückführung einer bisher auch-politischen richtungsgewerkschaftlichen Arbeit auf Behandlung wesentlich ökonomischer und sozialpolitischer Fragen. Die Gewerkschaft an sich soll keine parteipolitischen Belange vertreten, auch nicht indirekt.

Trotz Einheitsgewerkschaft wird aber eine Art formaler oder faktischer Fraktionierung in der Gewerkschaftsbewegung unvermeidbar sein.

Der Annahme, daß es jemals eine tatsächlich parteipolitisch neutrale Gewerkschaftsbewegung geben könnte, widerspricht erstens die Tatsache, daß Sozialreform eine eminent politische und parteipolitische Angelegenheit ist; zweitens sind die Parteien, soweit sie Arbeitnehmer vertreten, durch ihre Funktionäre in den Führungsstäben der Einheitsgewerkschaft vertreten; drittens ist es natürlich, daß die Mehrheit, die es theoretisch in einem politisch bzw. parteipolitisch neutralen Verband nicht geben dürfte, die parteipolitische Minderheit, die erst durch die Mehrheit in diese oppositionelle Position gedrängt wird, majorisiert. Auf diese Weise wird die Gewerkschaft, oft ungewollt, zu einem Parteisatelliten. Daß sie es wird, ist sicher. Es kommt nur auf das Ausmaß an. Wahrscheinlich ist die allgemeine Durchdringung der Einheitsgewerkschaft mit Parteipolitik in der politischen Dynamik eingeschlossen und unvermeidbar.

Die Besetzung der machtwichtigen Stellen in der Einheitsgewerkschaft (Schulung, Presse, Jugendführung) ist - meist ebenfalls „einheitlich“ in dem von der Mehrheit gewünschten Sinn. Symbolische Gesten gegenüber der Minderheit können an diesem Tatbestand nicht'viel ändern. Anders in England, wo derzeit ein Prozeß der Distanzierung der Gewerkschaften gegenüber der weitgehend von faktisch bürgerlichen sozialistischen Intellektuellen bestimmten Parteipolitik zu bemerken ist. Beim letzten Kongreß der englischen Gewerkschaften proklamierte der Vorsitzende O'Brien die Unabhängigkeit der Gewerkschaften von den Parteieinflüssen.

Der oft kaum merkbare Einfluß der Minderheit zeigt sich in der Bildung von Fraktionen (Oesterreich) oder nur in der Besetzung einiger Führungsposten (Deutschland).

Die Mehrheit der Arbeitnehmer ist heute sozialistisch, wenn nicht marxistisch, weil die Arbeitnehmermehrzahl annimmt, daß ihre Rechte von den Sozialisten besser als von den anderen vertreten werden. Die Mehrheit der gewerkschaftlich Organisierten und damit die Mehrheit der Funktionäre in einer Einheitsgewerkschaft ist daher derzeit sozialistisch.

Wenn es den Marxisten in der Einheitsgewerkschaft gelingt, wie etwa in Deutschland, durch Presse, Slogans und Schulung die Minderheit (ihre Anhänger) auf die Formeln eines Vulgärmarxismus festzulegen, hat der orthodoxe Marxismus ein Terrain erobert, das ihm bisher nicht zugänglich war: die nichtsozialistische Arbeiterschaft. Den Christen wurde, nach einem Wort des sozialistischen Bergarbeiterführers Otto H u e, das schmerzstillende Halsband umgelegt.

Hier sei angemerkt, daß die einzige Zeitschrift Oesterreichs, die sich mit der Propagierung marxistischer Theorien befaßt, nicht etwa das Führungsorgan der SPOe, „Die Zukunft“, ist, sondern die (übrigens auf einem sehr hohen Niveau stehende) Zeitschrift des Einheitsgewerkschaftsbundes „Arbeit und Wirtschaft“. Die Meinung der Minderheit kann in diesem Organ nur am Rande gesagt werden. Darüber hinaus werden die politischen Vertreter der Minderheit, soweit sie anderer Meinung als die Redaktion sind, angegriffen und beschimpft. Und dies in einem Ton, der nicht vermuten läßt, daß es sich bei der Zeitschrift um ein „überparteiliches“ Organ handelt. Der Sektor der sogenannten „Gemeinwirtschaft“ wird dagegen, obwohl sich auf ihm zumindest so arge soziale Exzesse ereignen wie in der Privatwirtschaft, offensichtlich geschont. Die mitzahlende Minderheit — beim Zahlen gibt es keine Fraktionierung — ist daher für die Mehrheit, zumindest publizistisch, eine gegnerische Macht. Man stellt ihr Wohlverhaltenszeugnisse aus, wenn sie einmal gegen ihre eigene Parteileitung revoltiert. Sonst aber wird die Minderheit im Sinne der „Faust“-Regeln einer Formaldemokratie als Bettgeher betrachtet, die an der gemeinsamen Wohnung nicht einmal ein Türschild anbringen darf.

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