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In verzeichneter Sicht

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Die Wertschätzung der Jungfräulichkeit. Zur Philosophie der Geschlechtsmoral. Von Ottokar Nemecek. Ringbuchhandlung A. Sexl, Wien. 336 Seiten. Preis 96 S.

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Die Wertschätzung der Jungfräulichkeit. Zur Philosophie der Geschlechtsmoral. Von Ottokar Nemecek. Ringbuchhandlung A. Sexl, Wien. 336 Seiten. Preis 96 S.

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Der Verfasser bringt eine Fülle von ethnologischem Material; leider eine unübersichtliche und eher verwirrende Fülle von Einzelheiten, die offenbar weniger auf eigenen Beobachtungen als auf Mitteilungen aus zweiter Hand beruhen. Die Literaturnachweisungen sind umfangreich, aber unvollständig und sehr heterogen zusammengesetzt.

Der Untertitel „Zur Philosophie der Geschlechtsmoral" verspricht mehr als das Buch hält. Die gebotene Philosophie ist großenteils eine recht simplifizierende Darlegung des Standpunktes des „historischen Materialismus": einseitige Deter mination des Menschen und der ethischen Probleme durch Umwelt und wirtschaftlich-soziale Gegebenheiten, zu denen die Weltanschauung nur den „ideologischen Ueberbau" darstellt (p. 3). Das ist die bekannte Konzeption des Marxismus.

Die soziale und ethische Wertung der V i r- ginität hängt nach Verf. im wesentlichen ab von der wirtschaftlichen Struktur: Bei Sammler- und Jägervötkern von vaterrechtlicher Kultur wird die V i r g i n i t ä t hoch geschätzt und steht unter strengem „Tabu", weil sie den Kaufpreis der Frau erhöht; bei ackerbauenden Völkern von mutterrechtlicher Kultur herrscht dagegen voreheliche, sexuelle Freiheit mit Geringschätzung der Virginität.

Absolute Sittennormen, die sich naturrechtlich aus dem Wesen des Menschen und aus der Natut der menschlichen Sexualität ergeben, erkennt Verf. nicht an. „Alles ist problematisch, auch die Ethik" (p. 44); „Die Furcht vor dem Tod ist die tiefste Wurzel aller Religionen" (p. 46). Die christliche Taufe erscheint ihm als „Abwehrzauber" des Wassers (p. 97): er zitiert (ohne Angabe des Autors) den Ausspruch: „Chastity is a question of breed (bread? Ref.) rather than law and religion" (p. 208). Der Begriff der Jungfräulichkeit wird in sieben verschiedene Unterarten geteilt (p. 222), wodurch er nur verwirrt wird. Das materielle Interesse ist „moralbildend" (p. 224); die christliche Sexualmoral beruht nur auf „Mißachtung der Sinnlichkeit"; der Begriff der „Josefsehe" wird verfälscht in eine „Sublimierung des Sexuellen ins Erotische" (p. 247).

Besonders aufschlußreich ist das IV. Kapitel „Zur Kausalität der Moral", worin er die ökonomisch-soziale Determiniertheit der Moralbegriffe nachzuweisen sucht. Er sieht die „Urelemente der Moral" in individueller Wunschbefriedigung und in der Beziehung zur „Gruppe", Eine Psychologisierung der Mora!, wie sie p. 269, 272, 273 entwickelt wird, führt zu reinem Behaviorismus (p. 281). Verf. betont die sexualmoralische Autonomie der Frau auf Grund der Emanzipation und selbständiger Berufsarbeit.

Die Relativierung der Moral und die damit verbundene Entwertung einer allgemeinverbindlichen Ethik ist deutlich p. 279 ausgesprochen. Verf. verwahrt sich allerdings dagegen, daß er einen ethischen Relativismus vertrete. Er formuliert:

„Relativität der Moral bedeutet keinen Relativismus der Unmoral (p. 5, 291f; „eine leidlose Welt würde keine Ethik brauchen.“

Mit dem letzteren Satze hat er allerdings eine tiefere Erkenntnis ausgesprochen, als ihm selbst bewußt geworden sein mag: Daß nämlich eine nicht gefallene (daher „leidlose") Welt kein Sittengesetz nötig hätte (cf. Ovid: „ quae vin- dice nullo spönte siia sine lege fidem rectumque colebat"). Aber der tragische Irrtum dieser Art von „Wissenschaft" ist es eben, daß sie die gefallene Natur des Menschen nicht anerkennt und daher nie imstande ist, den Menschen in seiner Totalität zu erfassen.

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