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Physik im Umbruch?

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Es unterliegt keinem Zweifel, daß gewisse Ergebnisse der neuzeitlichen theoretischen Physik auch bei Nichtfachleuten Aufsehen erregten und ein Interesse gefunden haben, das weit über eine auf allen Kulturgebieten feststellbare Anteilnahme wissenschaftlich interessierter Kreise hinausgeht. Diese Einstellung wurde — wie sich leicht feststellen läßt — durch Fachgelehrte von Rang hervorgerufen. Die Physiker selbst sind dafür verantwortlich zu machen, daß aus den Ergebnissen ihrer Spekulationen, die sie auf Grund gewisser Experimente anstellten, weltanschauliche Konsequenzen gezogen wurden. Und die Physiker selbst nannten diese Spekulationen „kühn“ und sprachen von einem „Abenteuer" und von einem „Wagnis". E er bekannte russische Physiker C h w o 1 s o n bezeichnete die Relativitätstheorie als einen „Eckstein einer neuen Weltanschauung“, und Planck urteilte über die Quantentheorie, daß sie „im Bau der klassischen Physik wie ein fremdartiger bedrohlicher Sprengkörper gewirkt habe“. Ein solcher „Umbruch“ in der Physik mußte auch den Nichtphysiker interessieren, und er mußte vor allem die Philosophen zur Stellungnahme herausfordern. Daß es dann zu scharfen Kontroversen kam, wie im Falle der Relativitätstheorie über das Raum-Zeit-Problem oder wie im Falle der Quantenmechanik über das Kausalitätsproblem, ist allgemein bekannt und nicht verwunderlich. Die Tatsachen aber stellen uns vor die nicht unbedeutende Frage, die

— wie mir scheint — nur selten gestellt und noch seltener richtig beantwortet wurde: Haben wir es in der modernen Physik in der Tat mit einem „Umbruch" oder mit einem „Fortschritt“ zu tun, wie ihn schließlich alle Wissenschaften aufweisen müssen?

Wollen wir die Frage richtig beantworten, müssen wir uns daran erinnern, daß die Geschichte der Physik von einem Umbruch, von einer revolutionären Tat sprechen darf, wenn sie den Gegensatz zwischen antikmittelalterlicher und neuzeitlicher Physik meint, und die Tat Galileis erwähnt, dessen Bedeutung für die neuzeitliche Forschung darin lag, daß er nicht mehr versuchte, das Naturgeschehen seinem „Wesen“ nach zu erfassen, sondern es mathematisch formulieren wollte. Nicht etwa dem Experiment allein verdankt die neuzeitliche Physik ihre Erfolge; auch vor Galilei wußten die Naturforscher, daß man an die Natur eine Frage stellen muß, wenn sie eine Antwort geben soll. Aber erst Galilei verstand es, eich den Naturvorgängen selbst dadurch zuzuwenden, daß er, wie E. M a y sehr richtig betont hat, „mit einem vorgefaßten (mathematischen) Schema an sie herantrat, um sie dementsprechend zu interpretieren". Damit war der erste Schritt zu einer wissenschaftlich brauchbaren Methode getan. Den zweiten Schritt tat Newton, indem er im Anschluß an bestimmte Versuche Prinzipien aufstellte, die, wie S. I. W a w i 1 o w in seiner lesenswerten Biographie des eng lischen Physikersx) schreibt, „die gleiche Funktion besitzen wie die Axiome in der Geometrie. Aus ihnen werden auf logischmathematischem Wege verschiedene Folgen abgeleitet, die ihrerseits durch den Versuch übsrprüft werden“. Der Aufstellung dieser schlechthin unbeweisbaren Sätze, die dem physikalischen Forschen vorangestellt werden — wir bezeichnen sie darum ebenso richtig als Postulate wie als Prinzipien —, verdankt die neuzeitliche Physik ihre Gestalt. Newton verzichtete aber auf die Aufstellung unbeweisbarer „Hypothesen“, willkürlicher Annahmen, die nicht du’f’ch Versuche verifiziert werden können. Dadurch verzichtete Newton allerdings auch (und wir müssen darauf wahrscheinlich verzichten), gewisse letzte uns interessierende Fragen nach dem „Wesen“ der physikalischen Wirklichkeit zu beantworten. Aber seine „Methode der Prinzipien“ gestattet, worauf gleichfalls W a w i 1 o w hinweist, „ungelöste

Probleme zeitweise zu umgehen“. Und der russische Gelehrte schreibt weiter: „Die

.Prinzipien' formulieren bedeutete, das menschliche Denken auf lange Zeit auf bestimmte Geleise lenken: die .Prinzipien hätten eine andere Form annehmen können, es wäre möglich gewesen, wie Hertz beispielsweise aufgezeigt hat, ohne den Begriff ,Kraft“ auszukommen; in diesem Sinne hat Newton die Physik gezwungen, auf seine eigene Weise zu denken, .klassisch , wie wir uns heute ausdrücken. In der Sprache Newtons haben wir gedacht und gesprochen, und erst jetzt werden Versuche gemacht, eine neue Sprache zu erfinden. Darum eben kann man behaupten, daß der ganzen Physik das individuelle Gepräge seines Denkens eingegraben war: ohne Newton hätte sich die Wissenschaft anders entwickelt.“

Die Frage, die wir uns gestellt haben, können wir also so formulieren: Hat die moderne Entwicklung das physikalische Denken wirklich auf ganz neue Geleise gelenkt oder hat sie — gestützt auf Experimente und die „klassische" Theorie — nicht nur auf der erprobten Bahn weitergeführt? Ist die neue Sprache“, die der moderne Physiker spricht, in der Tat eine ganz „neue" Sprache oder wurden dieser Sprache nicht nur gewisse neue Worte hinzugefügt und haben wir nicht nur solche syntaktische Veränderungen vorgenommen, wie sie eben einem normalen „Fortschritt“ entsprechen.

Mit Rücksicht auf die Relativitätstheorie muß gesagt werden, daß Einstein durch Aufstellung des allgemeinen Relativitätsprinzips (Einstein selbst nennt es ein „Postulat“) nur einen Schritt weitergegangen ist, indem er den physikalischen Prinzipien Newtons noch ein neues hinzugefügt hat, in dem er die „Forderung“ nach der „Invarianz des Naturgeschehens gegenüber jedem Wechsel im Standpunkt des Beobachters“ erhoben hat. Daher schlägt Sommerfeld für die Theorie bekanntlich den Namen „Invariantentheorie des Natur- geschehens“ vor und sieht in diesem „Nachweis der Unabhängigkeit der Naturgesetze von der Wahl des Bezugsystems“ die „positive Leistung der Theorie“, von der Planck gesagt hat, sie habe „der klassischen Physik erst die Krone aufgesetzt“. Daß die Theorie Einsteins mit der rein formalen mathematischen Verschmelzung von Raum und Zeit (die philosophischen Begriffe werden dadurch nicht tangiert s) auch die Begriffe der Masse und Energie sowie die der Gravitation und der Trägheit unter einem höheren Gesichtspunkt vereinigt, bedeutet jedenfalls einen „Fortschritt“ in der Begriffsbildung der Physik, aber dieser Fortschritt vollzieht sich ganz im Rahmen „klassischen" Denkens.

Anders allerdings scheint es im Falle der Quantenmechanik zu sein. Planck spricht darum hier nicht nur von einer „Modifikation“ der „klassischen Theorie“ wie im Falle der Relativitätstheorie, sondern von ihrer „Durchbrechung“. Wie kam es zu dieser „Durchbrechung der klassischen Theorie"? Im Anschluß an Strahlungsmessungen durch Lummer und Pringsheim hatte Planck, eine „Susrhlungsformel“ aufgestellt, in der neben bekannten Naturkonstanten, wie der Lichtgeschwindigkeit und der Böltzmannsdien Entropiekonstante, eine neue Naturkonstante, das Wirkungsquantum h, auftrat. Physikalisch bedeutete das, daß Energie nur „quantenmäßig“ ausge- strahlt werden kann, mathematisch, daß der Abbildungsraum, dessen sich der Physiker zur theoretischen Behandlung eines Naturvorganges bedient, von zellenartiger Struktur sein muß. In weiterer Folge führte die Entwicklung zur Aufstellung eines Modell , das der „Doppelnatur“ der Materie und der Energie, die sich als ineinander überführbar herausstellten, entspricht. Und schließlich sah sich der Physiker genötigt, statistische Methoden zu verwenden, das heißt er bediente sich zur mathematischen Behandlung der Probleme der Wahrscheinlichkeitsrechnung, eines Kalküls, das er in der Mathematik bereits vorfamd.

Sind wir auf Grund dieser hier kurz angedeuteten Tatsachen berechtigt, von einem „Umbruch“ in der Physik zu reden oder liegt nicht vielmehr bloß eine durch neue experimentelle Feststellungen bedingte Weiterbildung theoretischer Methoden vor? Die Wahrscheinlichkeitsrechnung gehörte jedenfalls bereits der „klassischen“ Physik an und man müßte — wollte man von einer „revolutionären“ Tat auf dem Gebiet der physikalischen Forschung sprechen, bereits in Ludwig Boltzmann den großen Revolutionär sehen. Oder in Krönig (1856) oder Clausius (1857) oder gar in Daniel Bernoulli, der bekanntlich schon im Jahre 1738 bestimmte Vorstellungen, die mit der kinetischen Gastheorie identisch sind, gegeben hat. Denn die Methoden der kinetischen Gastheorie — angewendet auf die elektromagnetische Strahlungstheorie — führten zur Aufstellung der Planckschen Formel. Die Auffindung einer neuen Natur- konstante ist aber kein Ereignis, das uns zwingen dürfte, von einem „Umbruch“ in der Physik zu sprechen. Es bedeutet, daß wir uns als Physiker nicht mehr der einfacheren mathematischen Methoden bedienen können, die einer kontinuierlichen Energieübertragung entsprechen. Aber auch der „moderne“ Physiker muß an die Natu r- vorgänge mit einem „vorgefaßten Schema“ herantreten, um sie „dementsprechend zu interpretieren“. Die verwendeten physikalischen Grundbegriffe aber lassen im Raum der modernen Physik prinzipiell keine andere „Deutung“ zu als in der klassischen Theorie. Sie sind und bleiben, um mit Pearson zu sprechen, ein Faktum der „Konzeption“ und nicht der „Perzeption“; sie wurden — ähnlich den mathematischen Begriffen — vom Physiker geschaffen, damit durch sie die Naturvorgänge mathematisch erfaßt werden können. Und die Tatsache eines „Doppelmodells“ beweist nur, daß eine anschauliche Darstellung der Naturwirklichkeit nicht möglich ist, aber wir nähern uns der Naturwirklichkeit mit Hilfe der mathematischen Theorie —' ebenso wie schon Newton — asymptotisch. Und wir dürfen hiebei ein sicheres Fortschreiten konstatieren.

So gesehen, spricht der moderne Physiker, um das Bild W a w i 1 o w s zu gebrauchen, keine andere Sprache als der klassische. Sie ist reicher an Worten, gewandter in der Syntax. Ob man eine wesentlich andere Sprache spredien könnte, um die Naturvorgänge adäquat zu beschreiben und zu erklären, ist eine offene Frage. Ontologisch gesehen, dürfen wir wohl behaupten: wir versuchen — allerdings oft nur. stammelnd — die Sprache des Schöpfers, des göttlichen Logos nachzusprechen, die er bei ununterbrochener SchöjJfungstat ausspricht.

l) S. I. Wawilow, „Isaac Newton’,Wien 1948, Verlag „Neues Österreich" Zaitungs- und Verligsgestllschfi-ft m. b. H.

2) Vgl. hiezu die Arbeiten von O. Kraus und A. Kastil in dem Sammelwerk „Naturwissenschaft und Metaphysik“, Abhandlungen zum Gedächtnis des 100. Geburtstages von Franz Brentano, Brünn und Leipzig, 1938.

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