"Raus aus dem Elfenbeinturm"

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Bei der 50-Jahresfeier der "Österreichischen Physikalischen Gesellschaft" (ÖPG) in Graz frönten Schüler wie Nobelpreisträger ihrer Neugier darüber, was die Welt zusammenhält.

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Bei der 50-Jahresfeier der "Österreichischen Physikalischen Gesellschaft" (ÖPG) in Graz frönten Schüler wie Nobelpreisträger ihrer Neugier darüber, was die Welt zusammenhält.

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Herr Specht spielt Chopin. Brillant. Was das mit Physik zu tun hat, lässt aber erst der Blick auf die Hörsaalwand erahnen. Dort tummeln sich projizierte Sinus- und Cosinuskurven, schlagen aus oder verflachen, je nachdem, wie tief Herr Specht in die Tasten greift.

"Musikalische Harmonie" hat die unterhaltsame Präsentation der beiden Heidelberger Forscher zum Thema. Sie analysieren Töne und gehen dem Rauschen auf den Grund. Sie erklären den Missklang der Sekund und fühlen dem musikalischen Gehör des Publikums auf den Zahn. Ein österreichischer Kollege packt schließlich die Geige aus und demonstriert mit virtuosen Seitenstrichen das Phänomen der Obertöne. Das Publikum lauscht und applaudiert. Selten noch war Wissenschaft so amüsant.

Ganz Graz stand eine Woche lang im Zeichen der Physik: Am Universitäts-Campus und in der Innenstadt vollführten Schüler vor den Passanten exquisite Experimente. Am Hauptplatz trotzten die luftleeren Magdeburger Halbkugeln der Zugkraft zweier Pferde und brachen erst mehrere hundert Pferdestärken später unter Motorengeheul entzwei. Im Casino wurden historische Messinstrumente blankgeputzt zur Schau gestellt. Und vor der Universität schwang das 20 Meter lange Foucault'sche Pendel in immer gleichen trägen Bahnen, während sich unter ihm die Erde um die eigene Achse drehte. Jede Viertelstunde warf es zum Beweis einen Metallpfeil um.

Dass gerade Graz als Schauplatz des Spektakels diente, hatte freilich seinen Grund: Vor 50 Jahren wurde hier die "Österreichische Physikalische Gesellschaft" (ÖPG) aus der Taufe gehoben. Genau am 13. Dezember 1950 gründeten die Teilnehmer an einer Physikertagung in Graz den Verein ÖPG, "der der Förderung und der Verbreitung der physikalischen Wissenschaft in Forschung, Entwicklung und Unterricht dienen, die österreichischen Physiker aus allen Bereichen einander näher bringen und deren Gesamtheit nach außen vertreten soll."

50 Jahre lang waren die Jahreshauptversammlungen in den Universitätsorten Graz, Wien, Innsbruck, Leoben, Salzburg und Linz "meistens nicht sonderlich interessant", resümiert Max Lippitsch, Professor für Experimentalphysik an der Karl-Franzens-Universität Graz. Im Jubiläumsjahr jedoch sollte alles anders werden: Nach dem Motto "Raus aus dem Elfenbeinturm" wagte Lippitsch gemeinsam mit den Physik-Kollegen von der Technischen Universität Graz und mit Unterstützung des Wissenschaftsministeriums den Schritt an die Öffentlichkeit: Seit Februar 1999 und mit einem Budget von 1,8 Millionen Schilling - ohne Eigenleistungen - konzipierten die Grazer Physikinstitute das "Physik-Event ÖPG 2000".

"Die großen Kriege sind hinter uns" Mit Erfolg, wie auch die prominente Rednerliste erahnen lässt: Vier Nobelpreisträger präsentierten ihre Einsichten und debattierten gemeinsam über die Zukunft der Physik - "ganz ohne Honorar", freut sich Initiator Lippitsch über das wissenschaftliche Highlight. Am Podium in der Aula der Karl-Franzens-Universität reihte sich tatsächlich eine Koryphäe an die nächste: Der Göttinger Molekularbiologe Manfred Eigen (Chemie-Nobelpreis 1967), Atmosphärenchemiker Paul Crutzen aus Mainz (Chemie-Nobelpreis 1995), Kernphysiker Gerard'`t Hooft aus Utrecht (Physik-Nobelpreis 1999) und der Münchner Teilchenphysiker Rudolf Mößbauer (Physik-Nobelpreis 1961).

Ein Thema vermochte selbst Nobelpreisträger aus der Reserve zu locken: Hat das Heraklit-Wort "Der Krieg ist der Vater aller Dinge" auch für die Physik noch immer Gültigkeit? Ob Katapult, Rakete oder Atombombe: Die meisten Waffen sind das Ergebnis wissenschaftlicher Forschung. Doch auch ohne technische Entwicklungen wären die meisten Kriege nicht zu verhindern gewesen, meint der Vizepräsident der Deutschen Physikalischen Gesellschaft, Alexander Bradshaw: "Durch moderne Waffen hat man nur effizienter töten können, wenn man das so sagen darf."

Forscher wie der russische Physiker Andrei Sakharov, Friedensnobelpreisträger 1975, hatten im entscheidenden Moment die Gefahren moderner Massenvernichtungswaffen erkannt und sind vehement dagegen aufgetreten: "Immer mehr wurden mir damals die moralischen Probleme dieser Arbeit bewusst", schreibt Sakharov, Vater der russischen Wasserstoffbombe. Mit dem Artikel "Gedanken über den Fortschritt, friedliche Koexistenz und intellektuelle Freiheit" von 1968 avancierte er endgültig zum Kritiker des Regimes und deklarierten Atomwaffengegner.

"Die großen Kriege sind hinter uns", glaubt Rudolf Mößbauer. Ähnlich positiv sieht die Lage auch Norbert Rozsenich vom Technologie-Ministerium: "Diesbezüglich bin ich optimistisch. Sonst müsste man ja glauben, der Mensch ist eine Sackgasse der Evolution."

Miserable Ausbildung der Physiklehrer Wichtig ist allen Wissenschaftern die Unabhängigkeit der Forschung, fernab der immer öfter angefragten "usability": "Ich warne davor, streng wirtschaftsorientierte Forschung zu betreiben, die darauf ausgelegt sein müsse, goldene Eier zu legen", plädiert der derzeitige Vorsitzende der ÖPG, Walter Kutschera, für die Gleichwertigkeit von Grundlagen- und angewandter Forschung.

Um die Zukunft der Physik in Österreich zu sichern, seien manche Anstrengungen nötig: Zum einen müsse die Internationalität gewahrt und ausgebaut werden, denn "alle wissen, dass hierzulande gute Musik gemacht wird. Doch wer weiß, dass auch gute Wissenschaft betrieben wird?" Auch die Chancen für junge Forscherinnen und Forscher gelte es zu wahren, um den Verlust heimischer Spitzenleute an ausländische Forschungsstätten - den so genannten "brain drain" - zu stoppen. Vor allem jedoch gehöre das physikalische Interesse schon in der Schule geweckt. Ein hartes Stück Arbeit steht also an. Das Problem liege vor allem beim Lehrkörper, meint Alexander Bradshaw: "Etwa 50 Prozent der Kinder unter elf Jahren lehnen Physik ab, besonders die Mädchen. Es braucht für einen guten Unterricht vor allem begeisterte Lehrer." Nobelpreisträger Mößbauer sprach gar von einer "miserablen Ausbildung der Physiklehrer".

An Begeisterung mangelte es derweil in der Grazer Innenstadt nicht. Mit Feuereifer frönten die Schülerinnen und Schüler der Lust am Experiment. Insgesamt 40 Schulen hatten im letzten Jahr an einem bundesweiten Physik-Projektwettbewerb teilgenommen. 30 davon stellten nun zusammen mit heimischen Universitäts-Instituten ihre kreativen Ergüsse zur Schau. Doch nicht nur schauen - angreifen und mitmachen lautete die Devise: Vor der Universität wurden Sonden zum Roten Planeten geschickt und mit Hilfe eines Wasserstrahls Lichtleiter simuliert. Bei der Leechkirche hatte ein "Zirkus der Physik" seine Zelte aufgeschlagen und verführte manch ehrwürdigen Professor, den Zeigestab gegen einen Jonglierteller zu tauschen. Im Stadtpark schockten Schüler mit Knallgas. Und ein "Planetenweg" machte den Graz-Spaziergang zur Weltraum-Wanderung: Sonne, Merkur, Pluto und Co. waren in maßstabgetreuer Entfernung positioniert.

Wozu das Spektakel gut sein soll? Sonja Draxler, Organisatorin der "Physik-Show" und Forscherin am Grazer Institut für Experimentalphysik, erklärt den Sinn der Übung: "Wer Physik betreibt, muss verspielt sein, und ich bin verspielt." Besonders die Motivation der Mädchen für das traditionell missliebige Schulfach liege ihr am Herzen.

Frauen und Physik - ein leidiges Thema. Zwar habe sich zumindest in Graz der Frauenanteil bei den Studienanfängern in Physik auf knapp 50 Prozent erhöht, weiß Professor Max Lippitsch. Doch noch immer wählen Frauen eher den Weg in die Schule, während ihre männlichen Kollegen den lukrativeren Schritt in Industrie und Forschung gehen. So beträgt auch unter den rund 1.300 ÖPG-Mitgliedern die Frauenquote nur magere zehn Prozent.

Frauen und Physik: ein leidiges Thema Ein Blick in die Physik-Geschichte sieht noch düsterer aus, wie eine Wanderausstellung der Technischen Universität Darmstadt über den "verleugneten Anteil der Frauen in der Physik" belegen will. Hildegard von Bingen, die geniale Italienerin Maria Gaetana Agnesi oder die alles überstrahlende Entdeckerin der Radioaktivität, Marie Sklodowska-Curie, bleiben Ausnahmen in den männlich dominierten Naturwissenschaften. Die Liste der Nobelpreisträger zeigt ein ähnliches Bild: Über 400 Preise wurden seit 1901 in den drei naturwissenschaftlichen Disziplinen Physik, Chemie und Medizin vergeben - davon gezählte zehn an Frauen. Oft trugen Frauen maßgeblich zu epochalen Erkenntnissen bei, wurden jedoch bei der Preisvergabe nicht berücksichtigt. Bekanntes Beispiel ist die Physikerin Lise Meitner: Nach gemeinsamen Arbeiten über die Atomkernspaltung wurde 1944 allein ihrem Forschungskollegen Otto Hahn der Physik-Nobelpreis zuerkannt.

Eine Frau war es allerdings , die den Ausschlag gab für den Abschied der Mathematik von den höheren Nobel-Weihen. Nach ihrer Ankunft in Schweden hatte die Mathematikerin Sonja Kowalewski eine Liaison mit Alfred Nobel, verließ ihn jedoch kurz danach wegen eines Fachkollegen. Als Nobel erfuhr, dass der Rivale ein Preis-Anwärter sei, verzichtete er in seinem Vermächtnis auf die Aussetzung eines Nobelpreises in Mathematik. Dabei ist es bis heute geblieben.

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