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Aussicht auf Größe ?

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Was er denn werden wolle, fragte der Vater den in die Zielgerade zur Matura einkurvenden Sohn. Irgendwas Wissenschaftliches, lautete die Antwort. Byzantini-stik? Botanik? Ethologie der atypisch linksdrehenden Quarks? Warum nicht Pflanzensoziologie, ich wäre so gern Pflanzensoziologe geworden, bohrte der Vater. Ich muß leider auch von etwas leben, sagte der Sohn. Wirklich gut leben tun nur die Juristen, allenfalls auch noch die Politiker, aber nur, wenn sie Wahlen gewinnen, sagte der Vater.

Was steht dem jungen Mann also bevor, einmal ganz abgesehen vom Finanziellen? Die einsam durchgrübelten Nächte, die intuitiven Einsichten, hastig hingekritzelt nach plötzlichem Aufschrecken aus dem Schlaf, diese bekanntlich obligaten Meilensteine auf dem Weg zum heiß begehrten Platz oben an der Tafel im Stockholmer Rathaus, “wo die frischgebackenen Nobelpreisträger den Lachs auf ihre neuen Fräcke kleckern?

Bekanntlich sind Illusionen das Vorrecht der Jugend, und der Realismus ist die Domäne der Alten, ist die Jugend Anwalt der Welt, wie sie sein sollte, während die Alten deren Ist-Zustand verwalten. Wen muß man also fragen, wenn man wissen will, wie es denn ausschaue in der Wissenschaft oder in den Künsten, in der Politik oder in der Wirtschaft, was man dort wohl werden könne? Die etablierten Mandarine?

Es gibt gute Argumente dafür, daß dieses Verfahren der Informationsgewinnung auf einem Fehlschluß beruht. Wenn man nämlich die Frage, was in der Wissenschaft (oder irgendeinem ihrer Fächer) los sei, als eine zu-kunftsgerichtete versteht und auf die Chancen derer bezieht, die sich der Kernphysik oder der Biochemie, der Astrophysik, der Unterwasser-Archäologie oder der Sozio-Linguistik in die Arme zu werfen im Begriffe sind, trifft man oft genug bei den Alten auf die Illusionen, während die Vorstellungen der Einsteiger von Nüchternheit geprägt sind.

Ist auch Erfahrung Domäne des Alters und Skepsis die Frucht der Erfahrung, kann sich doch jemand, der seinen Beruf vielleicht noch nicht ganz hinter, aber ganz sicher nicht mehr vor sich hat, schon das eine oder andere Illu-siönchen leisten.

Er kann die Uberzeugung hätscheln, das entscheidende Steinchen ins große Mosaik eingefügt zu haben, selbst wenn ein anderer, Cleverer, die Ehren einheimste, und gelebt hat man als approbiertes, habilitiertes, integriertes, wohldotiertes Rädchen im zünftigen Wissenschaftsbetrieb ja auch nicht ganz schlecht.

Unser Maturant kann sich den subtüen psychischen Luxus derer, die ihre Entscheidungen getroffen und mit ihren Frustrationen zu leben gelernt haben, nicht leisten. Er muß sich ja erst entscheiden. Außerdem hat er mehr Zeitgeist inhaliert. Kein Wunder also, wenn der Nachwuchs aller

Gelehrsamkeiten heute zum Großteil skeptischer über die handfesten Berufsaussichten wie über die Chance auf Erfüllung in einer wissenschaftlichen Laufbahn denkt. Viele sehen sich schon als graue Mäuse im Tretrad.

Ihr Berufsbild kann beanspruchen, realistisch zu sein. Vordergründig wenigstens. Ein neuer Leonardo steht nicht auf dem Programm, niemand glaubt, daß sowas nochmal möglich sein wird, jedenfalls kein Insider. Der große Einzelgänger hat ausgespielt. Andererseits — hat Einstein nicht in unserem Jahrhundert gelebt, den größten Teil seines Lebens jedenfalls, war er nicht fast unser Zeitgenosse?

Leonardo wurde übrigens von seinen Zeitgenossen so geschätzt, daß die Leute von Vinci nach seinem Tod angeblich zwei nahe Blutsverwandte von ihm, eine Nichte und einen Neffen, miteinander verheirateten, in der Hoffnung, es könnte aus dieser Ehe vielleicht ein neuer Leonardo hervorgehen. Das war immerhin naturwissenschaftlich korrekt gedacht. Die beiden brachten, so die Uberlieferung, auch tatsächlich einen recht passablen Maler zustande.

Ist eigentlich die Frage abwegig, ob denn ein Leonardo II. — so das Roulette der Gene der Welt einen beschert hätte - auch wirklich ein zweiter Leonardo hätte werden können? Wir wissen: Zum Leidwesen vieler Zeitgenossen nahm sich Leonardo viel zu wenig

Zeit zum Malen, die Herzogin von Mantua schickte ihm mehrmals einen Mönch mit einer Art Blankoscheck: Jeder Betrag fürs klitzekleinste Bild — doch der größte Maler seiner Zeit winkte ab, er beschäftigte sich mit Mathematik und Mechanik. Kein Zweifel: Leonardo hat das Potential seiner Möglichkeiten als Künstler nicht ausgeschöpft.

Aber der Naturwissenschaftler: Hätte nicht der erste Leonardo seiner leider verfehlten Reinkar-nation zu viel wegentdeckt gehabt? Ist das Potential der möglichen Innovationen zu jeder Zeit unendlich groß, schöpft ein Genie stets aus dem vollen? Oder ist der Topf der möglichen Erkenntnisse, Entdeckungen, theoretischen Durchbrüche auch manchmal leer, mindestens, was die Möglichkeiten eines Gebietes betrifft?

Könnte Einstein heute etwas der Relativitätstheorie Vergleichbares entdecken? Müßte er eine graue Maus im CERN-Getriebe werden, oder in den Musikbetrieb ausweichen, für den er ja auch einige Voraussetzungen mitbrachte?

Immerhin fällt die Häufung von Genies zu manchen Zeiten auf. Zum Beispiel die Fülle der Musikgenies im neunzehnten Jahrhundert. In den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts scheint es dann plötzlich physikalische Begabungen gehagelt zu haben. Genetischer Zufall, wie beim Würfeln, wenn die Sechser aufeinanderfolgen? Oder hatte sich ein solches Potential von Innovationsmöglichkeiten akkumuliert, daß sie wie die reifen Birnen vom Baum gepflückt werden konnten?

Also, wie steht's mit den Aussichten auf Größe? Nun, zu welcher Gruppe gehört er denn, der eingangs vorgestellte Sprößling in der Zielgeraden? Wenn er zu jenen Hochbegabten zählt, die jedes Jahrhundert zu schätzen weiß, vorausgesetzt, ihr Erkenntnisoder Schaffensdrang läßt sie nach Birnen greifen, die nicht nur gerade reif sind, sondern auch von den Zeitgenossen gern gegessen wer-den, dann brauchen wir uns um ihn keine Sorgen zu machen.

Ist er aber ein ganz gewöhnlicher, halbwegs begabter Mensch, bietet sich ihm trotzdem eine Fülle von Möglichkeiten, vor allem, wenn er sich für einen der vielen Bereiche entscheidet, in denen anwendungsorientiert geforscht wird. Gestern noch haftete dem Hologramm ein Hauch von Science-fiction an, heute schon haftet es unverfälschbar an jeder unserer Scheckkarten, immer, wenn wir unsere Kartennummer vergessen haben, blickt uns ein schwer identifizierbares Antlitz entgegen - offenbar der Schauspieler Pierre Richard in der Rolle des Ludwig van Beethoven.

Nie zuvor in der Geschichte wurde eine solche Masse wissenschaftlicher Kleinarbeit geleistet wie heute. Wie immer man Wissenschaftler definiert — heute leben und arbeiten mehr von ihnen als in allen verflossenen Jahrzehnten und Jahrhunderten zusammen.

Selbst die kleinste weiterführende Erkenntnis ist eine personale Leistung, wie zu Leonardos oder zu des Höhlenmenschen Zeiten. Viele dieser kleinen Erkenntnisse beruhen auf genaueren, gezielteren Fragestellungen als je zuvor. Der Sprung in die neue

Größenordnung wissenschaftlichen „Massenbetriebs“ läßt, was da vorgeht, Außenstehenden anonym, fast wie ein Naturereignis, erscheinen.

Doch selbst eine Erfindung, die so in aller Munde ist wie der Laser, auf den sich die Militärs in Ost und West mit solcher Vehemenz stürzten, ohne den der im Weltraum stationierte Kaufkraftver-nichter namens SDI nicht denkbar wäre, entstand im Alleingang wie Ressels Schiffsschraube: 1957 betrat ein Mann namens Gordon Gould den Drugstore eines typischen amerikanischen „Nachbarschafts-Notars“ und ließ sich die Seiten eines vollgekritzelten Hefts bestätigen. Uber das, was da drinstand, sind die Laser-Kon-* strukteure prinzipiell auch heute noch nicht hinausgelangt. „Typisch amerikanisch“: Gould kämpft seit vielen Jahren um seine Erfinderrechte — und hat bisher alle Prozesse gewonnen.

Nach wie vor haben die Früchte vom Baum der Erkenntnis die unbequeme Eigenschaft, unsichtbar zu sein, so lang sie nicht gepflückt worden sind. Manche sind kurz vorher als Schemen erahnbar. Vor allem die kleineren.

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