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Vom Mythos zur Ideologie

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Die Identität einer Kultur beruht nicht nur auf einer gemeinsamen Sprache, gemeinsamen Verhaltensnormen und einem gemeinsamen Moralkodex, sondern in hohem Maß auf der Herleitung ihrer Abstammung. So steht am Anfang jeder Kultur ein Mythos, der das Werden der Welt als Ganzes und im speziellen das Entstehen der betreffenden Kultur deutet.

Im fließenden Ubergang entwickelt sich aus der mythischen die religiöse und philosophische Welt-Deutung, in der von Anfang an zahlreiche Elemente einer Kritik an der jeweils bestehenden Kultur und ihrer Ordnung enthalten sind. Wenn diese Kritik sich gleichsam selbständig macht, wird aus der Deutung der Welt der Entwurf einer Alternativ-Weit und es entstehen Utopien und Ideologien als Raster der Beurteilung des Gegenwärtigen und Vergangenen. Anton Grabner-Haider, Religi-ons- und Kulturphilosoph an der Grazer Universität, versucht, dies an Beispielen aus verschiedenen Lebenswelten nachzuzeichnen.

Unter kritischer Kulturphilosophie versteht er die Analyse möglichst vieler Aspekte einzelner Lebenswelten, um so deren Selbstreflexion zu fördern. Dabei spielen die Mythosforschung, die Kulturanthropologie, aber auch die Sozialpsychologie eine wesentliche Bolle. Das Aufspüren vergangener Lernvorgänge und das Nachzeichnen früher Versuche kognitiver Weltdeutungen soll jene Erinnerung wachhalten, die das Verständnis der gegenwärtigen Kultur und ihrer Lebenswelt erst ermöglicht.

Den Ausgangspunkt bilden archaische mythische Interpretationen der Kultur, zunächst von der antiken Lebenswelt bis zum Mittelalter, schließlich von der Renaissance bis zur Gegenwart. Vergleichend werden entsprechende Weltdeutungen außereuropäischer Kulturen dargestellt. Dabei wird deutlich, daß viele dieser ursprünglichen Mythen und Bilder weit in unsere Zeit hineinreichen. Unsere Gegenwart ist keineswegs so rational und aufgeklärt, wie sie sich gerne sieht und darstellt.

Manche kritische Analyse des Autors bleibt allerdings etwas zu oberflächlich. Daß etwa das Christentum nicht mehr war (und ist) als eine „zeitkritische Lebensschule mit stark religiöser Motivation", reicht wohl nicht für eine kulturphilosophische Beurteilung. Auch die Apokalypse läßt sich doch etwas fundierter betrachten als mit der Anmerkung, hier würden Ausgegrenzte auf Zeiten der Bache hoffen.

Der Autor schildert die gegenwärtigen Probleme in den Kulturen der sogenannten Ersten Welt. Dabei werden die Inhalte der postmodernen Kulturkritik mit ihren Themen Wirtschaft, Umwelt, Architektur, elektronische Datenverarbeitung und vieles mehr recht klar beschrieben. Es wird auch deutlich gemacht, wie aus der Kulturkritik das Phänomen der Ideologie entsteht, indem die Komplexität der Verhältnisse auf einfache Schablonen reduziert wird, mit denen man nicht nur das Bestehende zu kritisieren, sondern auch die Alternative hinreichend zu begründen glaubt.

Bei der Darstellung der Ideologien verfällt aber der Autor wieder in eine Oberflächlichkeit, die dem Thema nicht gerecht wird. Man kann die gegenwärtige Situation nicht'so schildern, als gäbe es im ideologischen Bereich nichts als die „neue Rechte", und alle Argumentation auf Alain de Benoist beziehen, weil dieser einige abstruse Ideen publizierte.

Daß es auch Tonnen von linker Ideologie gibt, die fallweise nicht weniger abstrus ist, sollte einem kritischen Kulturphilosophen nicht aus dem Blickfeld geraten. (Ein Beispiel: Selbst ein linker Humanist wie Julius Tandler sagte im Februar 1923 in einem Vortrag: „Denn heute vernichten wir vielfach lebenswertes L«ben, um lebensunwertes zu erhalten".)

Die Welt besteht nicht aus „guten Demokraten" und „bösen Rechten", sie besteht vielmehr, wie Viktor Frankl sagte, aus anständigen und unanständigen Menschen in allen Lagern. Sein Kapitel über „subtile Ideologien" sollte Anton Grabner-Haider einmal einer Analyse im Sinne seiner „kritischen Kulturphilosophie" unterziehen.

KRITISCHE KULTURPHILOSOPHIE

Europäische und außereuropäische Lebenswelten.

Von Anton Grabner-Haider. Leykam Verlag, Graz 199S. 276Seiten, brosck, öS 348.-

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