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Britisches Labourkaleidoskop

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An dem „Kongreß des Vereinigten Europa” im Haag nahmen bekanntlich kürzlich auch Abgeordnete der britischen Arbeiterpartei teil, obwohl kurz vor dem Kongreß das Exekutivkomitee der Partei klar und eindeutig ausgesprochen hatte, daß es unerwünscht sei, daß Mitglieder der Arbeiterpartei an diesem Kongreß teilnehmen. Diesem Beschluß gegen die „Rebellen von rechts” kam um so größere Bedeutung zu, als dasselbe Exekutivkomitee gerade den Verfasser des „Nenni-Telegramms” von der Partei ausgeschlossen und die anderen 21 Abgeordneten, die das Telegramm unterschrieben, mit dem Ausschluß bedroht hatte. Die 21 Abgeordneten gingen den Weg nach Canossa und verpflichteten sich schriftlich, in Hinkunft keine derartigen Extratouren mehr zu machen. Auf der anderen Seite entschlossen sich einige Abgeordnete, die ursprünglich nach dem Haag gehen wollten, der Parteilinie zu folgen; aber eine ansehnliche Zahl ging doch nach dem Haag.

In denselben kurzen Zeitabschnitt von kaum zwei Wochen fielen einige andere politische Ereignisse: der Labourabgeordnete Mr. Alfred Edwards sprach wieder gegen die beabsichtigte Nationalisierung der Stahlindustrie und hatte auch sonst nicht viel Schmeichelhaftes über das Nationalisierungsprogramm seiner Partei zu sagen; auch er hatte vor der Parteiexekutive zu erscheinen und Rechenschaft zu geben. Vertreter der Kohlenbergwerksarbeiter nahmen zu gleicher Zeit gegen den Bürokratismus der nationalisierten Kohlenindustrie Stellung, und Mr. Shinwell, Kriegsminister und Obmann der Labour Party, erklärte öffentlich, die Nationalisierung der Kohlenindustrie, für die er verantwortlich war, sei nicht genügend vorbereitet worden; es habe sich gezeigt, daß man eigentlich viel zuwenig in die Tiefe der Probleme eingedrungen war,

die sich die Arbeiterpartei zu lösen vorgenommen hatte. Zur gleichen Zeit trat eine Gruppe von etwa 70 Labourabgeordneten mit programmatischen Erklärungen an die Öffentlichkeit, aus denen zu ersehen war, daß es eine große Gruppe in der Labourpartei gibt, deren Sozialismus nicht das Ergebnis marxistischer Erkenntnisse ist, sondern aus christlicher Weltanschauung entspringt. Diese Anhäufung von wichtigen parteipolitischen Ereignissen fiel nahe zusammen mit dem zu Pfingsten abgehaltenen Kongreß der Arbeiterpartei, der mit einem Gottesdienst eröffnet wurde, in dem der Ministerpräsident A 111 e e die Epistel las. Nach dem Ritus der anglikanischen Kirche sollte der erste Brief des -Apostel Paulus an die Korinther gelesen werden, und zwar Kapitel III, Vers 1 bis 23, in dem die Stellen enthalten sind: „Ein jeglicher aber wird seinen Lohn empfangen nach seiner Arbeit” und „Wer sich unter euch dünkt, weise zu sein, der Werde ein Narr in dieser Welt, daß er möge weise sein; denn dieser Welt Weisheit ist Torheit bei Gott…” Die Zeitungen berichten nun, daß Mr. Attlee anstatt dessen den ersten Brief an die Korinther, XII, 1 bis 13,Mas.

Die bloße kommentarlose Aufzählung dieser wichtigen Ereignisse im politischen Leben der britischen Regierungspartei könnte verwirrend wirken, selbst wenn man andere innen- und’ außenpolitische Ereignisse völlig außer acht läßt. Von vielen Seiten wird von einer inneren Spaltung der Partei gesprochen, der bald eine äußere Spaltung folgen muß, und es fehlt nicht an politischen Propheten, die an eine Wiederholung des Maodonald- Experiments glauben, und an anderen, die Neuwahlen noch in diesem Jahre erwarten. Diese Mutmaßungen schießen wohl alle über das Ziel. Immerhin kommt dem „Nenni- Telegramm” große Bedeutung zu, denn es ist der Ausdruck einer wirklich tiefgehen-den politischen Meinungsverschiedenheit, die irgendwo innerhalb der Regierungspartei saß.

Denn es bedeutet ja doch indirekt eine Gutheißung der Politik des Sozialisten Pietro Nenni für das Zusammengehen mit den Kommunisten und zugleich eine Kritik an der britischen Außenpolitik, die wahrlich nicht mit jener der Kominform parallel läuft. Man sagt ja nicht ganz mit Unrecht, daß Bevin die Außenpolitik Churchills fortsetze.

In seiner Rede zur Maifeier befaßte sich Attlee in alter Sitte mit der Haltung der Sowjetunion und der Kommunisten außerhalb und innerhalb Großbritanniens und ging scharf ins Gericht mit jenen 21 Parteiabgeordneten, die das Nenni-Telegramm mitgefertigt hatten: „Ich kann nicht glauben, daß Unwissenheit bei den aktiven Urhebern (des Telegramms) zutrifft. S i e wußten, was sie taten. Sie wollten die Außenpolitik der Regierung sabotieren, und sie wollten Italien den Weg Rumäniens und der Tschechoslowakei gehen sehen …”

Die also Getadelten beugten sich.

Um die Abweichungen in der Haltung einzelner oder bestimmter Gruppen von Labour- abgeordneten zu verstehen,, muß man sich vergegenwärtigen, daß die Partei nach ihrem Aufbau und ihrer Entwicklung eine Sammelpartei ist, die die marxistischen und die christlichen Sozialisten, die Leute der Gewerkschafts- und jene der Genossenschaftsbewegung umfaßt, und eine Reihe anderer Organisationen, deren Mitglieder der Arbeiterpartei bloß als Kollektiv angehören. Demgemäß werden die Delegierten zum Jahresparteitag von den verschiedenen Organisationen erwählt; sie vertreten die Interessen und Ideen ihrer individuellen Organisationen; bei Abstimmungen sind nicht die Stimmen der Delegierten zu zählen, sondern die „Stimmen”, die sie vertreten.

In einem Artikel zum Pfingstparteitag stellte die sozialistische Wochenschrift „New Statesiman and Nation” fest, „bis jetzt habe sich die Arbeiterpartei ohne eine klare Philosophie entwickelt und es werde jetzt Sache sein, zu einer neuen .sozialistischen Philosophie” zu gelangen.” Es wird dazu nicht kommen. Die Interessen und Ideologien innerhalb der Partei sind zu mannigfaltig und die Autorität alter Doktrinen marxistischer Herkunft ist zu sehr erschüttert. Aber die Arbeiterpartei Großbritanniens — und nicht sie allein — wird immer rascher dem Scheideweg zugetrieben, von dem aus man nur einen oder den anderen Weg gehen kann. Er wird nicht der ganz nach links führende sein.

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