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Die verlorenen Schlüssel zum Paradies

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Rom, im Februar 1957

Der Kongreß der italienischen Linkssozialisten in Venedig begann mit einem kuriosen Zwischenfall und endete mit einem Theatercup. Als sich die Menge der Delegierten ungeduldig vor den noch geschlossenen Pforten des Großkinos San Marco drängte, stellte sich heraus, daß der Schlüssel unauffindbar war. „Sie suchen den Schlüssel zu unserem verlorenen Paradies“, witzelte ein Delegierter, und alle herum wußten, was gemeint war. Das verlorene Paradies war die Einheit des Sozialismus Italiens, die der Kongreß wiederzufinden hoffte.

Eine ungewöhnliche Atmosphäre herrschte auf diesem Kongreß, eine Hochstimmung der

Begeisterung, die an die vergangenen romantischen Zeiten des italienischen Sozialismus erinnern mochte, ein Enthusiasmus, der sich nicht allein an der nähergerückten Aussicht, in einer einzigen Partei gesammelt zu sein, inspirierte, sondern auch an der frischen, klaren, reihen Luft der Demokratie, die wie durch eine plötzlich aufgerissene Tür einströmte und von den Lungen gierig auf gesogen wurde. Um diesen Ueberschwang zu begreifen, muß die psychologische Lage der Linkssozialisten Italiens betrachtet werden, die ein Jahrzehnt lang mit den Kommunisten gemeinsam, ihnen mehr untergeordnet als verbündet, die Luft der Volksdemokratie, des Führerstaates, des Stalinismus geatmet hatten. Dann kamen der Chruschtschow- Bericht, Posen und Budapest. Aber während die sowjetischen Panzer die ungarische Nation neuerlich versklavten, brachten sie den italienischen Linkssozialisten die Freiheit. Noch in seinem Schlußwort hat Pietro Nenni unter tosendem Applaus Worte in den Saal gerufen, die den anwesenden Mann Nr. 2 der italienischen KP, Giancarlo Pajetta, wie Peitschenhiebe treffen mußten: „Ich bin über die unverdienten und ungerechten Kritiken einiger kommunistischer Genossen gegen uns überrascht. Man sollte meinen, w i r hätten den Chruschtschow-Bericht erfunden, die tragischen Enthüllungen in Polen und Ungarn seien ein Gespinst unserer Träume; aber sie sind leider eine Wirklichkeit, die wir zur Kenntnis nehmen und aus der wir die Folgen ziehen müssen!“ (Vivissimi applausi, steht im Bericht des „Avanti!“ hinter diesem Satz.)

Pietro Nenni ist ein glänzender Redner. Ein Korrespondent bezeichnete seinen Bericht als „die Magna Charta des erneuerten italienischen Sozialismus“. Nenni wurde der große Star des Kinos San Marco, unterbrochen nur von begeisterten Ovationen, während die spärlichen wagemutigen Widersacher niedergeschrien wurden: „Carristi! Carristi!“ Carristi heißen imItalienischen die Panzertruppen, mit diesem Spottnamen belegten die Nennianer jene Parteifreunde, welche die Intervention der Sowjetpanzer in Ungarn gerechtfertigt fanden. Als Vergeltung nannten die carristi die Nennianer „carrieristi", womit sie auf deren angebliche Ambition, in der Regierung Karriere machen zu wollen, anspielten.

Als die programmatische Schlußresolution verlesen wurde, die alle Forderungen und Prinzipien Nennis enthielt, wenn auch in etwas verwaschener Form, und als man sah, daß die Resolution durch den Kongreß einstimmig angenommen wurde, galt der Sieg Nennis sicher, die sozialistische Einigung und der Austritt der Sozialdemokraten aus der Regierung für bevorstehend. Was sich zwischen Resolution und Abstimmung für das neue Zentralkomitee abgespielt hat, das Intrigenspiel der Strömungen und das Feilschen um Namen für die einzige Kandidatenliste, gehört eher der Skandalchronik an. Es war ein Kampf nicht um Programme und

Prinzipien, sondern um die Beherrschung der Partei. Nenni verlor ihn gegen den „Apparat“, gegen jene Bürokratie besoldeter Funktionäre, die einst von dem inzwischen verstorbenen Organisationsleiter Morandi nach dem Vorbild der KP aufgebaut worden war und keine Lust zeigte, die Kontrolle abzugeben. Das Erbe Morandis ist zwischen seinem Amtsnachfolger Dario Valori und dem kommunistenfreundlichen Senator Sandro Pertini umstritten. Valori war es, der die relative Mehrheit erringen konnte: 31 Sitze von insgesamt 81, während Nenni nur 27, der Abgeordnete Basso 15 und Pertini 9 erreichten. Dario Valori ist Römer, steht am Anfang der Dreißig und hat, vom Vertrauen Morandis vorgeschoben, selbst in der Parteibürokratie Karriere gemacht, ohne jemals mit einer eigenen Politik hervorzutreten. Er unterstützte einst jene des Leninisten Morandi und behauptet jetzt, die Nennis unterstützen zu wollen. Auch Lėlio Basso, obwohl einmal Vizesekretär, ist nicht gerade das, was man eine festumrissene Persönlichkeit nennt.

Der Schlüssel zum verlorenen Paradies der sozialistischen Einheit ist im Kino San Marco nicht gefunden worden, wo wieder das normale Spielprogramm begonnen hat, mit einem Wildwestdrama voll schleichender Schritte und verbotener Schüsse. Wenn sie auch in der Resolution von allen Gruppen einstimmig gewünscht wird, so erfordert die delikate Operation doch vor allem das Vertrauen der Sozialdemokratie, die, wie Nenni bitter bemerkte, „am Fenster steht und unsere Schritte zählt“. Man wäre bereit gewesen, Nenni Vertrauen zu schenken, aber nicht der jetzigen Mehrheit eines Valori, Basso und Pertini, die in unterschiedlichem Maße im Verdacht stehen, leninistischen Ideen und der Freundschaft mit den Kommunisten treu geblieben zu sein. Der Vorwurf gegen die Sozialistische Partei, in einer Position der Zweideutigkeit zu verharren und die innerpolitische Lage mit ihrer Unsicherheit zu belasten, kursiert in diesen Tagen wie Wechselgeld. Aber auch die Haltung der Sozialdemokratie zeichnet sich nicht durch Eindeutig-

keit aus, wenn die verschiedenen Exponenten Nenni teils mit Steinen bewerfen und die anderen ihn zum Ausharren ermuntern, wenn die einen den Eindruck geben, daß sie die Einigung des Sozialismus anstreben, und die anderen, daß sie sie eher zu verhindern trachten. Die Niederlage Nenru's in Venedig, mehr auf sein taktisches Versagen als auf die Ablehnung seiner Politik zurückzuführen, dürfte jedoch erwiesen haben, daß die Einigung nicht von oben kommandiert, sondern von den Wählermassen eingeleitet werden muß.

Es beginnt eine Phase schwieriger Auseinandersetzungen um die Führung der Sozialistischen Partei und wahrscheinlich auch heftiger Dispute mit den Sozialdemokraten, wo die Verwirrung fast ebenso groß ist. Wichtiger ist aber die Frage, was aus dem neuen Programm der Linkssozialisten wird. Die Loslösung von den Kommunisten ist formell vollzogen, aber in den Gewerkschaften und anderen „unpolitischen" Organisationen, in den Genossenschaften, in den Gemeindevertretungen dauert die Zusammenarbeit fort. Es wäre jedoch ungerecht, nicht anerkennen zu wollen, daß sich die Partei mit der ausdrücklichen Anerkennung der Demokratie als Methode und Ziel, mit einer neuen außenpolitischen Konzeption, im Stadium einer raschen Evolution befindet. Ihr Standpunkt der Neutralität, eine konstitutionelle, definitive Neutralität, wie es die österreichische ist, wird von den sozialistischen Parteien des Westens nicht verworfen, wie es die Sendboten der Dritten Internationale auf dem Kongreß, Bevan, Morgan Phillips und Commin, so maßgeblich bestätigt haben. Die ausdrückliche Anerkennung der europäischen Ideen, des gemeinsamen Marktes und des Atompools kennzeichnet den bereits weiten Abstand von den Kommunisten. Fs wird also interessant zu beobachten sein, wie die neuen Männer der Sozialistischen Partei mit ihrem rigenen Programm fertig werden.

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