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Le Mirage — die Täuschung

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„Schwere politische Erschütterung“ — „Vertrauenskrise“ — „Strapazierte Demokratie“ — „Die bittere Pille“ — „Wer trägt die Verantwortung?“ — „Das geprellte Parlament“... so und ähnlich lauteten in den letzten Wochen die Überschriften der innenpolitischen Kommentare und Leitartikel in der Schweizer Presse von links bis rechts. Dem einmütigen Ausdruck des Unbehagens, ja des Unwillens in den Zeitungen entspricht das Gefühl der Verbitterung, das sowohl in den Gesprächen unter

den Politikern und Parlamentariern wie auch in den Reden des Mannes der Straße sich niederschlägt. Kaum jemals in den letzten Jahren war das Schweizervolk derart von einer „Grundwelle“ der Einmütigkeit erfaßt, was den Beobachter freuen könnte, wenn es nicht eine Grundwelle des Unbehagens und des Zornes wäre. Selbst die „Neue Zürcher Zeitung“ nimmt das Wort „Mißwirtschaft“ in die Feder.

Was hat die notorisch gelassenen Eidgenossen aus dem Häuschen zu bringen vermocht? Die präzise Antwort auf diese Frage ist eine lange und unabgeklärte Geschichte, die wir hier den Lesern der „Furche“ nicht per longum et latum zu resümieren brauchen. Wichtig dagegen ist die Kernfrage, um deren Abklärung ein eifriges Seilziehen vor und hinter den Kulissen des eidgenössischen Militärdepartementes (so heißt das Schweizer Armeeministerium) im Gange ist. Diese Frage lautet: Wurden Regierung und Parlament 1961, anläßlich des Entscheides über die Anschaffung von 100 Kampfflugzeugen des französischen Typs „Mirage“, für welche damals ein Gesamtkredit von 871 Millionen Franken verlangt und auch bewilligt wurde, über die Kosten dieses Wundervogels getäuscht oder haben die ..Fachleute“ des Militärdepartementes bei hren dazumaligen Berechnungen selber leichtfertig, aber ohne Hintergedanken zu tief gegriffen?

Tiefer Griff in den Säckel

Heute stellt sich nämlich heraus, daß die Hunderterserie, die in der Schweiz in Lizenz gebaut werden soll, mit allem Drum und Dran (wie Spezialelektronik, für die schweizerischen Bedürfnisse zurechtgeschnit-tenes Waffensystem, Bodenleitsystem, Simulatoren, bauliche Maßnahmen für Wartung und so weiter) auf gegen zwei Milliarden zu stehen kommen wird. Eben jetzt hat die Landesregierung, der Bundesrat, dem Parlament einen Nachtragskredit unterbreitet, der sich auf rund 350 Millionen Franken für zusätzliche Material- und Erprobungskosten sowie aus einem Betrag von 220 Millionen für voraussehbare Teuerungsmehrkosten bis Ende 1968, also insgesamt auf 570 Millionen Franken beläuft. Die bundesrätliche Botschaft fügte aber bei, daß weitere

Kreditbegehren folgen werden, und es ist heute ein ziemlich offenes Geheimnis, daß unter diesen Begehren so saftige Brocken wie ein Kredit in der Größenordnung von 300 bis 350 Millionen Franken für das Bodenleitsystem figurieren werden. Kurz und schlicht: Die Mirages werden die Eidgenossen schließlich statt der prophezeiten 870 auf gegen 2000 Millionen Franken zu stehen kommen — und diese Eröffnung hat nun in der Öffentlichkeit zu jener Reaktion geführt, die ich einleitend

mit einigen Artikelüberschriften aus der Schweizer Presse charakterisiert habe. Leute mit Galgenhumor haben angesichts der unliebsamen Überraschung das französische Wörterbuch hervorgeholt und darin unter „mirage“ die Angabe gefunden: „Luftspiegelung, Täuschung“. Das Flugzeug hat also, mindestens hinsichtlich seiner Kosten, den zutreffendsten Namen, den man sich ausdenken konnte, gefunden...

Unbequeme Fragen an „Bern“

Daß sich die Erbitterung in der Öffentlichkeit ungehemmt Luft macht, ist selbst für die sonst gelassenen Schweizer begreiflich, weil 1961, als vom Parlament der 871-Millionenkredit angefordert wurde, ausdrücklich und laut verkündet wurde, in dieser Summe seien alle, aber auch gar alle Kosten der Hunderterserie inbegriffen, inklusive der Mehrkosten, die aus der Lizenzfabrikation und aus der Anpassung des französischen „Mirage III-C“ an die schweizerischen Bedürfnisse erwachsen werden. Diese Anpassungen seien lediglich sekundärer Art und ergäben sich unter anderem aus der Ersetzung der französischen durch eine modernere amerikanische Elektronik sowie aus einigen Anpassungen für das Schweizerische Waffensystem und infolge einiger Änderungen an einzelnen für Aufklärungszwecke reservierten Maschinen. Man muß in diesem Zusammenhang daran erinnern, daß nach dem abrupten Verzicht auf die schweizerische Eigenentwicklung P-16 Bern vor der Wahl zwischen dem schwedischen „Draken“ und dem französischen „Mirage“ stand und sich schließlich für den letzteren entschied, weil er angeblich den schweizerischen Anforderungen hinsichtlich Polyvalenz das heißt Mehrzwecktauglichkeit besser entsprach. Der helvetische Perfektionismus hat es fertig gebracht, ein Flugzeug zu verlangen, das gleichzeitig für die Unterstützung der Erdkampftruppen, für die Aufklärung, für den Neutralitätsschutz und für die Operationen „tief in den feindlichen Raum hinein“ tauglich sein soll. Der auf diese Sonderwünsche quasi nach Maß zugeschnittene Konfektions-Mirage III-C sei, so wurde 1961 versichert, dazu imstande, und das erst noch für Kosten, die unter einer Milliarde Schweizer Franken für die Hunderterserie bleiben sollten.

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