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Die österreichische Wirtschaft und die Atomzivilisation

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West und Ost forcieren in gleicher Weise die Industrialisierung als das einzige Heilmittel für alle wirtschaftlichen Schwierigkeiten des 20. Jahrhunderts. Im Zeitalter der einsetzenden Atomkraftindustrialisierung liegt darin ein weltweiter Antrieb, dem, wenn er von beiden Weltmächten in gleicher Weise ausgeht, sich offenbar auf den ersten Blick niemand in der Mitte entziehen kann. Trotzdem bleibt die Skepsis gegenüber der aufsteigenden amerikanisch-russischen Atomkraftzivilisation ein gesundes, auch wirtschaftliches Prinzip von größter Tragweite. Ein Staat wie Oesterreich muß es sich und kann es sich überlegen, ob er im Zuge der sich intensivierenden Weltatomkraftwirtschaft ebenfalls Atomkraftwerke bauen will, um seine eigene Wasserkraftwirtschaft niederzu-konkurrieren und überdies auch noch seine Landschaft atmosphärisch zu verseuchen. Eine der weitreichendsten Offenbarungen der Genfer Atomkrafttagung war, daß die Atomkraftwerke auf verschiedenen, noch undurchsichtigen Wegen radioaktive Chemikalien ausscheiden, die alles ringsum, angefangen von den einzelligen Pflanzen der benachbarten Gewässer und den Insektenlarven darin, über Fische und Wild-'geflügel bis zu den Schilddrüsen der Säugetiere, verseuchen. Der Bericht war eindringlich genug, um den Schluß zu ermöglichen, daß vermutlich die Gefahren der Streuradioaktivität der H-Bomben weniger zu fürchten sind, als die atmosphärischen Verseuchungen durch die friedliche Atomkraftverwendung.

Die Verschiedenheit in den formalen Eigentumstiteln auf beidei Seiten, des amerikanischen Kapitalismus und des russischen Kommunismus, erweist sich gegenüber ihrer panindustrialisti-schen Identität, der eigentlichen soziologischen Wurzel ihres beiderseitigen Imperialismus, als eine nebensächliche, antiquierte Etikette. Soll Oesterreich die eine oder die andere oder gar beide Spielarten dieser identischen Industrialisierung weiterführen, nachdem sein Industriepotential durch die siebenjährige Herrschaft der nazistischen Kriegswirtschaft mehr als verdoppelt worden ist? Wenn man die österreichischen Wirtschaftsorgane und Wirtschaftstheoretiker liest, so scheint es keinen Zweifel an dem überragenden Nutzen dieser Entwicklung für die österreichische Wirtschaft zu geben, die von ihnen weitgehend als kapitalistischer Selbstzweck aufgefaßt wird. Wenn man freilich fast zwei Jahrzehnte in Amerika lebt und die katastrophalen Folgen sieht, die sich bereits heute in diesem reichen Land an die totale Industrialisierung anschließen, dann ist es unausbleiblich, daß vor allem in demjenigen Beobachter, der die Wirtschaft grundsätzlich in einem höheren geistigen Zusammenhang sieht, die größten Zweifel über die Weisheit einer ufer- und sinnlos immer weiter getriebenen Industrialisierung aufsteigen müssen. Denn wer die Wirtschaft in der ökumenischen Perspektive sieht, kann nicht verkennen, daß ihre Isolierung und Ueberbewertung das Ende einer Epoche anzeigt.

Die Verdoppelung des österreichischen Industriepotentials seit 193 8. die einen Hauptgrund für den Optimismus der Wirtschaftstheoretiker über die Lebensfähigkeit Oesterreichs abgibt, hatte zweifellos mehrere bisher positive Konsequenzen. Das Nationalvermögen und Nationaleinkommen ist größer, daher auch die innerpolitische Verständigung über seine Aufteilung zwischen der sozialistischen Arbeiterschaft und den nicht-sozialistischen Schichten leichter geworden. Weiter hat die durch die Industrialisierung ermöglichte fortschreitende Technisierung und Mechanisierung der Landwirtschaft fast auf allen Gebieten der landwirtschaftlicken Produktion zur Autarkie geführt, wodurch der österreichischen Landwirtschaft allein die Versorgung der Gesamtbevölkerung auf dem inneren Markt gelungen ist. Beide Vorteile haben freilich gleichzeitig auch ihre sichtbaren Nachteile, die man allzu leicht übersieht. Das Uebergewicht der Industrie hat das ideale strukturelle Gleichgewicht des Landes aufgehoben; es hat eine nee-kapitalistische Renaissance ermöglicht, aber auch der sozialistischen Arbeiterschaft eine breitere Machtbasis gewährt; es hat trotz des quantitativ größeren Nationaleinkommens qualitativ die Diskussion zwischen Planwirtschaft und Privatwirtschaft verschärft; es kann auf lange Sicht nicht darüber hinwegtäuschen, daß auch noch in dem existierenden Mischsystem nach amerikanischem Modell der kapitalistische Reichtum sich rascher vermehrt als der sozialistische Anteil daran, auch wo ein neuer Typui der Mitbestimmung der Arbeiterschaft am Produktionsprozeß gefunden, geübt und entwickelt wird. Nichtsdestoweniger würde sich diese innerindustrielle Problematik unschwer auf ein neues, stabiles Gleichgewicht einspielen, wäre es nicht die Landwirtschaft, die infolge der Tendenz und Realität der Industrialisierung vor ganz neue Probleme gestellt wird, die über ihr eigenes Lebensinteresse hinaus die Gesamtwirtschaft angehen.

Was den industriellen Sektor allein betrifft, so kann die weitere österreichische Entwicklung zweifellos unter dem politischen Vorzeichen einer auf lange Sicht aufgebauten und gedachten Parteienkoalition die alte Idee der christlichen Sozialreform, die aber immer auch in irgendeiner Weise das konkrete Postulat des demokratischen Sozialismus war, verwirklichen, nämlich die Arbeiterschaft zu einer entwicklungsfähigen Mitbestimmung und Miteigentümerschaft heranziehen. Dieselbe strukturelle Entwicklung zeigt sich ja in dem amerikanischen Mischsystem, in dem der soziale Aufstieg der Arbeiterschaft sich in der Rechtsform des Kapitalismus vollzieht. In den letzten Kollektivverträgen zwischen der Automobilindustrie (Ford) und der Gewerkschaft der Automobilarbeiter (Reuther), die für die amerikanische Gesamtindustrie ein Muster zu werden versprechen, wurde die Gewerkschaftsforderung nach dem garantierten Jahreslohn mit einigen Abstrichen verwirklicht, die es freilich wieder umgekehrt der Unternehmung ermöglichen, das Ganze von ihrem Standpunkt als die organische Fortsetzung einer längst betretenen Bahn steigender Betriebserrungenschaften und Belegschaftssicherungen hinzustellen. So sehen beide Seiten dasselbe strukturelle Vertragsstück als die Verwirklichung eigener Interessen an, was es auch in der Tat in der Hochkonjunktur der amerikanischen Wirtschaft ist. Die alte Forderung der berufsständischen Ideologie (sofern sie nicht dem politischen Korporativismus folgt, sondern an die gegebenen Verhältnisse der politischen Demokratie anschließt), daß es sich um Tarifvereinbarungen handeln muß, die sowohl das Unternehmerinteresse als auch das Arbeiterund Angestellteninteresse weiterführen, erscheint hier verwirklicht (solange jedenfalls das Sozialprodukt quantitativ groß genug ist, um neben dem Unternehmergewinn auch der Arbeiterschaft einen steigenden Lebensstandard zu garantieren).

Der eigentliche Haken freilich, den diese Entwicklung in Amerika aufzeigt und der überall sichtbar werden muß, wo allein vom Gesichtspunkt des Industrialismus und der Industrialisierung gedacht wird, liegt nicht nur darin, daß jene Dauerkonjunktur bisher auf der Atombombenproduktion beruhte, also eine bestimmte weltweite Atompolitik voraussetzt (es könnte naturgemäß auch die Atomfriedensindustrie dieselbe Plattform der Prosperität abgeben), sondern noch weitaus tiefer auch darin, daß irgendein soziales Substrat existieren muß, auf dessen Rücken die Vereinbarungen von Kapital und Arbeit durchgeführt werden und die Möglichkeit krisenhafter Zuspitzungen abgewälzt werden können. Im britischen Reich war dieses Substrat einstmals ganz eindeutig die Welt der Farbigen. Im modernen Konzentrationskapitalismus, dessen Idealtypus Amerika ist, spielen zwar noch immer gewisse weniger bemittelte Schichten innerhalb und außerhalb der eigenen Wirtschaft die alte Kulirolle (auch wenn man das nicht wahr haben will!) — die Hauptverlagerung jedoch vollzieht sich von der Industrie auf die Landwirtschaft, und zwar grteskerweise gerade infolge der Industrialisierung der letzteren, durch die sie scheinbar gewinnt und ihre Funktionen besser erfüllen kann, in der tieferen Analyse jedoch substantiell aufs schwerste geschädigt wird und zu einer immer mangelhafteren Erfüllung ihrer Aufgaben gelangen muß Gerade das amerikanische Farmertum, der Idealtypus der durchindustrialisierten Landwirtschaft, kann dieser Wirtschaftslogik nicht entrinnen, auch wenn nur eine Wirtschaftswissenschaft die Zusammenhänge herausfinden kann, die in Generationen denkt, also nicht bloß die Wirtschaft in ihrer Isolierung sieht.

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