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Menschen, nicht Ideen pardonieren

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Damit möchte ich keinesfalls die Ereignisse, die sich rings um den Fall Borodajkewycz abspielten, bagatellisieren. Es liegen in ihm nicht ungefährliche Ansatzpunkte, aber nur dann, wenn die beiden Großparteien Fehler machen würden. Der erste und größte dieser Fehler wäre eine Fehlbeurteilung der Wirklichkeit. Die Menschen, die vor 1938 dem nationalliberalen, später nationalsozialistischen Lager angehörten, bilden heute keine organisatorische, geschweige denn politisch-ideologische Einheit. Die meisten von ihnen haben einen neuen geistigen und politischen Standort gefunden, eine neue wirtschaftliche und soziale Position. Auch sie wollen keine neonazistischen Abenteuer und haben ein Interesse an einem klaren Trennungsstrich. Identifizieren wir daher nicht alles, was nicht der eigenen Stammwählerschaft entstammt oder in irgendwelchen neutralen Organisationen tätig ist, automatisch mit Neonazismus. Es können nicht alle Staatsbürger christliche Demokraten oder Sozialisten sein, aber fest steht, was sie nicht sein dürfen., nämlich Bazillenträger neonazistischen Gedankengutes. Ziehen wir daher einen klaren Trennungsstrich, greifen wir künftig dort energisch zu, wo es nötig ist, aber werfen wir nicht in einen Topf, was nicht in einem Topf sein will, weil wir sonst selbst groteskerweise die unfreiwilligen Organisatoren einer gegen uns gerichteten politischen Kraft würden, die heute keine ist.

Der Rechtsstaat kennt gleichberechtigte Staatsbürger; daher gab es Amnestien, Vereinszulassungen, Vermögensrückgaben, letztlich die Einbeziehung der ehemaligen Nationalsozialisten in die demokratische Gemeinschaft. Wir pardonierten Menschen, aber wir akzeptieren nicht das Geschichtsbild der nationalsozialistischen Vergangenheit. Seien wir uns überhaupt bewußt, daß sämtliche Geschichtsbilder der Vergangenheit, die durch Jahrzehnte, ja Jahrhunderte im deutschsprachigen Raum politische Formkraft hatten, im Atomzeitalter zur Irrealität geworden sind; selbst dann, wenn sie da und dort in einem verwirrten Geist noch herumspuken mögen. In unserer Zeit, in der die Kontinente zu politischen Begriffen wurden, die politische Welt in Ost und West zerfällt, ist die Vergangenheit ein Traum, vielleicht ein Märchen, sind großdeutsche, kleindeutsche, großösterreichische Geschichtsbilder keine politische Wirklichkeit, sondern nur mehr Gegenstand historischer Betrachtungen. Damit haftet auch der Auseinandersetzung, ob wir Österreicher denn Deutsche oder eine eigene österreichische Nation seien, etwas Wesenloses, Gespensterhaftes an. Wir Österreicher fühlen uns bewußt als Staatsvolk, dessen Mehrheit deutscher Zunge ein ethnischer, kultureller, historischer, auf keinen Fall jedoch ein politischer Begriff ist.

Mit seiner Entschließung vom 31. März 1965 hat der Nationalrat eine Tat gesetzt und den notwendigen Trennungsstrich gezogen. Er wünscht von der Regierung die Unterbindung allen dessen, was Österreichs Eigenstaatlichkeit, Ansehen und demokratische Lebensform gefährden könnte.

Ich kann mir nicht denken, daß bei dieser Beschlußfassung etwa die ÖVP-Abgeordneten dabei nur den SPÖ-Innenminister meinten und die SPÖ-Abgeordncten nur den ÖVPUnterrichtsminister; ich bin vielmehr davon überzeugt, daß die demokratischen Abgeordneten dieses Hauses künftig Unterlassungen vermieden und Handlungen gesetzt haben wollen, egal, welcher Minister hiefür zuständig ist. Ich kann mir auch nicht vorstellen, daß die FPÖ-Abgeordne-ten sich deshalb der Zustimmung zur Resolution entzogen, weil sie die Mehrheit ihrer Wähler noch immer einem alten Geschichtsbild verpflichtet glauben.

Die Schlußfolgerungen aus all dem Gesagten ergeben sich von selbst. Wir Abgeordnete und Politiker sind zwar nicht die engstirnigen Sesselkleber, Streithähne und Dummköpfe, wie des öfteren gelesen werden kann; aber vielleicht waren wir wirklich da und dort betriebsblind, haben wir gefehlt durch Duldung und Unterlassung, haben mit Rücksichtnahme auf bevorstehende Wahlen uns gescheut, schwierige Probleme anzufassen. Vielleicht hat insbesondere die Tatsache, daß die Koalitionsparteien über die Ereignisse des Jahres 1934 keine einheitliche Auffassung besitzen, dazu beigetragen, daß die Lehrer in den Schulen die jüngste Zeitgeschichte mieden. Versuchen wir hier gründliche Abhilfe zu schaffen; ringen wir um ein objektives Verhältnis zur Vergangenheit; beschwören wir nicht Bürgerkriegsgespenster; verlangen wir von allen Organisationen geistige Trennungsstriche zu Traditionen, die nicht österreichische sind; schweigen wir nicht vor Wahlen, auch wenn gesprochen und gehandelt werden müßte; und nicht zuletzt, vergessen wir niemals, daß es Kräfte gibt, die eine Radikalisierung des innenpolitischen Klimas brauchen.

Wenn wir Politiker Selbstkritik üben, wollen wir auch die Manager der Massenmedien eindringlich bitten, ihr Verhalten vor dem Fernsehschirm, in Rundfunk und Presse ebenso selbstkritisch zu überprüfen. Eine unerfahrene Jugend liest Zeitungen, hört Radio, sitzt vor dem Fernsehschirm; oftmals ist sie verwirrt, enttäuscht, entsetzt, weil ihr die Schulung und Voraussetzung fehlt, die dort gehörte und gelesene scharfe, ätzende Kritik auf ihr wahres Maß zurückzuführen. Eine entidealisierte Jugend aber ist anfällig für radikalen Seelenfang,

Wenn wir alle insgesamt in diesem Geiste an die Arbeit gehen, dann werden wir so wie in der Vergangenheit auch künftig alle Schwierigkeiten überwinden. Dieses Land und seine Menschen sind beseelt von einer tiefen Kraft. Wir alle lieben diesen Staat in seiner Vielfalt der Bundesländer vom Bodensee bis Burgenland. Wer ist nicht stolz in Wien auf die Schönheiten und den Reichtum dieser Länder? Wer wüßte in Wien nicht, daß es allein nicht Österreich ist; und wer in den Ländern wüßte nicht in seinem Herzen, auch wenn seine Lippen den Wiener Zentralismus kritisieren, daß Österreich nicht wäre, was es ist, ohne seine in aller Welt berühmte Bundeshauptstadt Wien.

Wenn wir Österreicher nörgeln, kritisieren, sogar manchmal das eigene Land vor dem Auge des Ausländers herabzusetzen scheinen, ziehen Sie trotz manchen Feldgeschreis der letzten Wochen keine falschen Schlüsse!

Unser Herz kennt nur eine Liebe, unsere Lippen flüstern still nur ein Gebet: Wir lieben dich, Vaterland Österreich!

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