7095816-1994_45_02.jpg
Digital In Arbeit

Ohne Reformen drohen weitere Wahlniederlagen

19451960198020002020

Der derzeitige hündische Aufbau der Volkspartei wird den aktuellen gesellschaftlichen Anforderungen kaum gerecht.

19451960198020002020

Der derzeitige hündische Aufbau der Volkspartei wird den aktuellen gesellschaftlichen Anforderungen kaum gerecht.

Werbung
Werbung
Werbung

Betrachtet man die Stärke der (ehemaligen) Großparteien, stellt man fest, daß diese bis 1986 eine recht gleichmäßige Entwicklung zurücklegten. Sie „oszillierten“ über Jahrzehnte um die Marke von 45 Prozent. Mit Ende der achtziger Jahre begann eine dramatische Talfahrt. Seit damals hat die SPÖ ein Viertel, die ÖVP aber gar ein Drittel ihrer Wähler verloren!

Was sind die Ursachen? Wir sind einer Entwicklung ausgesetzt, die man nur als säkulare und globale verstehen kann. Sie kennzeichnet das Ende des zwanzigsten Jahrhunderts durch die Überwindung des Denkens in geteilten Welten. Mit dem Zusammenbruch des Sozialismus und dem Ende eines hundertjährigen Streites um die Wirtschaftsordnung sind die bis dahin bestimmenden politischen Kategorien weggewischt worden. Auch in unserem Mikrokosmos Austria, der seit 1945 zwei „Reichshälften“ aufwies.

SPÖ wie ÖVP waren ganz wesentlich am Gegensatz von Arbeit und Kapital orientiert. Die Sozialdemokratie verstand sich als „Arbeiterbewegung“. Die Volkspartei verwarf zwar programmatisch jedes Klassendenken, war aber de facto von der ökonomischen Teilung der Gesellschaft nicht minder gekennzeichnet. Diese wurde auf eine komplizierte, schwer verständliche und noch schwerer exekutierbare Weise berücksichtigt. Man dominierte in den Berufsvertretungen der selbständig Erwerbstätigen und repräsentierte also den Dienstgeberteil der Sozial-rechnenden Funktionäre spielten hingegen eine schwache, manchmal klägliche Rolle in Gewerkschaften und Arbeiterkammern, wo die SPÖ das Sagen hatte. Dennoch war die ÖVP nicht'Unternehmerpartei. Immer wieder erzielte sie hohes allgemeines Wählervertrauen, was ohne Zustimmung auch der Arbeitnehmer gar nicht möglich gewesen wäre. Sie verfügte über den ÖAAB als Arbeitnehmerorganisation, der in Teilbereichen beachtliche Erfolge erzielen konnte. Ein absoluter Höhepunkt war die Arbeiterkammerwahl vor zehn Jahren, wo die Mehrheit in zwei Ländern und bundesweit bei den Angestellten erreicht wurde.

Durch die Gliederung in Bünde hat also die ÖVP als einzige Partei die Sozialpartnerschaft gleichsam in sich selbst konstituiert. Rückblickend war dies ein geradezu geniales Konzept. Es funktionierte freilich nicht so, wie es gedacht war und es scheint nun überhaupt obsolet zu werden. Die Attraktivität der Bünde ist offenbar verlorengegangen.

Was insbesondere den ÖAAB betrifft, hat er nur in jener Zeit wirklich Bedeutung erlangt, als die Gesamtpartei in Opposition zu einer sozialistischen Regierung stand. Damals gab es eine gei-stige Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner. In dieser war der Arbeitnehmerflügel der ÖVP als Träger christlich-sozialen Gedankengutes eindeutig dominierend. Die Wirtschaftsvertreter konzentrierten sich aufs Überleben im rot regierten Staat und auf die Kooperation mit der soziahstisch beherrschten Gegenseite der Sozialpartnerschaft. So erhielt der ÖAAB jenen dann gefehlt hat, wenn gemeinsam mit der SPÖ regiert wurde. In dieser Situation sind Christgewerkschafter nur ein Störfaktor, denn nichts ist Wirtschafts- und Bauernbündlern lästiger, als einen Zweifrontenkrieg mit Arbeitnehmern außerhalb und innerhalb der eigenen Partei.

Dementsprechend läßt der ÖAAB, einst „ideologische Speerspitze“ der Partei, nach dem Eintritt in die Regierung eine arge und zunehmende Blässe erkennen. Die heutigen Probleme lassen sich auch immer weniger aus Arbeitgeber- oder Arbeitnehmersicht lösen. Der Pragmatismus des Regierens erdrückt idealistisch- konzeptives Denken. Die Unbefangenheit des Agierens haben die klei-neren Parteien gewonnen. Noch dazu werden die Bünde heute hilflos in das Negativbild der beruflichen Interessenvertretungen gezerrt.

Um Mißverständnissen vorzubeugen: politische Parteien wie berufliche Interessenvertretungen werden auch in Zukunft eine unersetzliche Aufgabe zu erfüllen haben. Was die Menschen aber ablehnen, ist ihre Vereinnahmung durch übermächtige Organisationen, die Einfluß in allen Lebensbereichen ausbreiten. Insbesondere die Vermengung von Parteipolitik und wirtschaftlich-sozialer Interessenvertretung stößt auf Unwillen. Was früher die Front der Klassenauseinandersetzung war, wird heute als Zaun für Reviere angesehen, in denen Privilegien blühen und außerhalb derer viele mit leeren Händen stehen: Arbeitslose, Behinderte, alleinstehende Mütter, vom Berufswandel überrollte Menschen.

Die ÖVP wird sich nach der Regierungsbildung Gedanken über ihr Selbstverständnis und ihre Organisation machen müssen, will sie nicht weitere Wahlkatastrophen riskieren. Es wird diskutiert werden müssen, ob ihr berufsständischer Aufbau nicht zu einem erheblichen Hindernis für glaubwürdiges Agieren gehaben, ob sich die ÖVP als Mittelpartei eine siebenundzwanzigfache Teilung - drei Bünde mal neun Länder - überhaupt leisten kann.

ÖVP wie SPÖ werden gut beraten sein, sich- hinkünftig auf politisch- konzeptives Denken und das Angebot vertrauenswürdiger Kandidaten für Volksvertretung und Regierung zu konzentrieren. Auch in den Interessenvertretungen wird es zu einem freieren, ungebundenen Wettbewerb der Ideen kommen müssen. Von der überlieferten Verschränkung beider Bereiche wird man sich aber verabschieden müssen. Es sei denn, man will den zweifachen massiven Wählertadel des Oktober 1994 — Arbeiterkammer und Nationalrat

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung