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Sorgen an der Themse

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Bei den Ergänzungswahlen zum Parlament von Westminster, die in zwei englischen Wahlkreisen, wegen . Ablebens ihrer bisherigen Ab-geordnetefrfirf r“äüt voH8tÄteffH1W6Vfte ab-' gehalten wurden, eTiitt Labour einen Rückschlag, der die Parteiführung schwer getroffen haben muß. Nicht nur, daß ihr in dem einen Fall ein vorher sozialistisch besetzter Sitz an die Konservativen verlorenging, mußte sie im anderen, wo ihr Kandidat vergeblich versucht hatte, das Erbe eines konservativen Mandatars für Labour zu erobern, die betrübliche Feststellung machen, daß die sozialistischen Parteigänger sogar von den Liberalen überflügelt und auf den dritten Platz zurückgedrängt worden waren. Deutlicher konnte die Wirkung nicht unterstrichen werden, die das von Labour andauernd gebotene Schauspiel der Planlosigkeit und inneren Zerfahrenheit nach wie vor auf die Wählerschaft ausübt.

Die Dreierserie von Niederlagen, die Labour bei den allgemeinen Wahlen von 1951, 1955 und 1959 mit stark steigenden Verlusten und ohne den Trost eines Zwischenerfolgs zu verzeichnen hatte, war von fast allen politischen Beobachtern als ein klarer Beweis dafür aufgefaßt worden, daß das britische Volk an den gemachten Erfahrungen mit dem sozialistischen Allheilmittel „Verstaatlichung“ mehr als genug hatte und in der Überzahl nicht gewillt war, Labour neuerlich mit der Regierungsgewalt zu betrauen, solange die Partei an ihrem Verstaatlichungsdogma festhielt. Einige der Labour-Prominenten, ' einschließlich des Pärteicnefs Gaitslcelf selbst, | gelangten zur gleichen Einsicht und gaben das unmittelbar nach den Wahlen vom letzten Herbst auch unumwunden zu, aber alle ihre Bemühungen, das offizielle Programm entsprechend zu entschärfen, stießen auf den hartnäckigen Widerstand des linken Parteiflügels. Die Bevans und Crossmans und Michael Foots, die radikalen Gewerkschaftssekretäre, wie Frank Cousins, ließen keinen Zweifel darüber, daß sie die Partei lieber sprengen als einer Verwässerung ihrer marxistischen Glaubenssätze zustimmen würden. Schließlich kam es — das geschah ebenfalls in jener Woche — zu einer dramatischen Sitzung des obersten Exekutivkomitees der Partei, als deren Ergebnis das strittige Problem für beiderseits befriedigend gelöst erklärt wurde. Zwar bleibt der ominöse Punkt vier des Labour-Programms, der die Überführung „der Mittel der Produktion, der Verteilung und des Austausches in Gemeinbesitz“ fordert, vollinhaltlich aufrecht, er wir aber durch sozusagen eine Fußnote ergänzt, die, wie ihr Autor, Mr. Hugh Gaitskell, zu glauben scheint, jede Unklarheit über die Tragweite des Punktes vier beseitigen muß. Tatsächlich besagt dieser Anhang nichts anderes, als daß von Fall zu Fall entschieden werden soll, welche weiteren Vermögenswerte dem Privateigentum entzogen und dem „Gemeinbesitz“ einzuverleiben sind. Somit bleibt in der Labour-Planung alles beim alten, das heißt, mit der Verheißung der gleichen Experimente, mit denen sie vor neun Jahren das Land an den Rand des Ruins gebracht und das ihnen früher zugestandene Vertrauen in Unsicherheit, Furcht und Abneigung verwandelt hatten, wollen die britischen Sozialisten die Macht zurückzugewinnen.

Begreiflich, daß die Konservativen die offenbare Unfähigkeit der Gegenpartei, sich zu einer aussichtsreichen Reform ihrer Zielsetzung durchzuringen, mit einiger Schadenfreude beobachten. Damit ist nicht gesagt, daß es nichts gebe, worüber man sich im konservativen Lager Sorgen zu machen hätte. Tatsächlich gibt es dessen nicht wenig. Auf innenpolitischem Gebiet ist es vor allem die ständige Bedrohung der Preisstabilität durch rücksichtslose Lohnforderungen, wie jetzt gerade die der Bediensteten der verstaatlichten Eisenbahnen oder durch langdauernde Streiks, deren Anlaß oft nur in gewerkschaftlichen Rivalitäten liegt, dL- im konservativen Hauptquartier schweres Kopfzerbrechen verursacht; denn naturgemäß wäre kaum etwas so geeignet, die Popularität der konservativen Regierung zu untergraben, wie eine Bewegung der Lohn-Preis-Spirale, die eine fühlbare Er höhung der allgemeinen Lebenshaltungskosten auslösen würde. Auch in der Partei selbst steht manches offen; so die der Lösung harrenden, dringenden Fragen, wie die dem Konservativismus traditionell verbundene oder ihm durch sozialen oder intellektuellen Aufstieg nähergekommene junge Generation mit dem konservativen Gedankengut vertraut gemacht und für aktive Mitarbeit in der Partei gewonnen werden kann. Dazu kommen die Probleme, die deshalb besonders sorgenvolle sind, weil die Haltung, die die Regierung zu ihnen einnimmt, selbst in der eigenen Partei keineswegs allgemein gebilligt wird und ein Unbehagen erzeugt hat, welches sich über alle Parteigrenzen fortpflanzt.

„Ich habe dieses Amt nicht übernommen, um der Liquidation des britischen Empire zu präsidieren!“ Dieses stolze Wort aus dem Mund Winston Churchills, der eben sein erstes Nachkriegskabinett, noch ist es nicht zehn Jahre her, gebildet hatte, ist durch die Entwicklung längst überholt. Das Empire ist weitestgehend liquidiert, und was ihm in Form von Protektoraten oder Treuhandgebieten noch angehört, wird bald denselben Weg gegangen sein. Niemand zwischen Land's End und den Orkneys denkt daran, diesen Prozeß rückgängig machen zu wollen, aber vielen wird es unheimlich angesichts der geradezu hektischen Eile, mit der der restliche Ausverkauf in die Wege geleitet und vollzogen werden soll; und sie fragen sich, ob eine solche Hast, dem schmachvoll gewordenen Vorwurf des Kolonialismus den letzten Boden zu entziehen, wirklich geboten oder überhaupt zu verantworten ist — zu verantworten nicht allein im Hinblick auf das weitere Schicksal der zahlreichen europäischen und asiatischen Bewohner etwa Kenyas oder Rhodesiens, sondern mit Rücksicht auch gerade auf die afrikanischen Völker selbst, denen mit der Befreiung von der Fremdherrschaft ein die kühnsten Vorstellungen übertreffender Aufschwung verheißen wird, die aber, zum Aufbau eines geordneten Staatswesens und zur Selbstregierung noch lange nicht reif, in Gefahr sind, die erlangte Unabhängigkeit mit einem schweren kulturellen und wirtschaftlichen Rückfall bezahlen zu müssen. Diese Sorge, die mit etwa verbliebenen Spuren „imperialistischer Gesinnung“ nichts zu tun hat, findet Nahrung in den jüngsten Berichten von blutigen Stammesfehden und dem Wiederaufleben des Kannibalismus in einzelnen bis kürzlich vollkommen ruhigen Gebieten des schwarzen Kontinents.

Das Vertrauen des Landes in die staatsmännische Begabung, die Zielsicherheit und die Energie des Prime Ministers ist durch diese Sorgen noch wenig erschüttert worden; und man schätzt seinen Mut, den er vor kurzem in der Südafrikanischen Union, durch sein offenes Urteil über die dortige Rassenpolitik, bewiesen hat. Aber eine sehr ernste Prüfung steht ihm bevor. Wenn 'ie Gipfelkonferenz, um deren Zustandekommen er sich so eifrig bemüht hat und auf die er offenbar die größten Hoffnungen setzt, sich als verlustbringend für den Westen erweist, dann wird es Harold Macmillan schwerfallen, sein bisher gewahrtes Prestige ungeschmälert zu erhalten.

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