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80 Jahre sind verflossen, seit Gregor Mendels zweite und letzte biologische Arbeit „Über einige aus künstlicher Befruchtung gewonnene Hieracium-Bastarde" erschienen ist. Seine erste geniale, von seinen Zeitgenossen in ihrer fundamentalen Bedeutung nicht erkannte Abhandlung „Versuche über Pflanzen-Hybriden“ war ihr vier Jahre vorangegangen. Nach seiner Wahl zum Abt konnte Mendel seinen botanischen Liebhabereien nicht mehr nachgehen. Seine unveröffentlichten Versuchsresultate sind leider mit seinem ganzen schriftlichen Nachlaß verlorengegangen. Heute aber ist sein Name der ganzen gebildeten Welt bekannt, und eine große, in raschem Aufstieg begriffene Wissenschaft nennt ihn stolz ihren Ahnherrn. Bei der Lektüre seiner kurzen, klaren, mit scharfem, kühlem Verstand geschriebenen Abhandlungen ergreift uns immer wieder das erhebende Gefühl: hier spricht ein großer Naturforscher. Worin beruht das Geniale in Mendels Werk? Nicht eine glückliche Gelegenheitsentdeckung, nicht das abgerundete Ergebnis einer lebenslangen, planmäßig geleisteten Arbeit, nicht eine große Konzeption in der Zusammenfassung von Teilergebnissen, nicht eine intuitive Antezeption theoretischer Möglichkeiten liegt in dem dünnen Heftchen beschlossen. Hingegen ein glänzendes Musterbeispiel einer Experimentalarbeit auf Grund einer richtig konzipierten Arbeitshypothese von hohem heuristischen Wert.

Jede Untersuchung des Naturforschers geht von einer mehr oder weniger willkürlich formulierten Hypothese aus, und diese wieder basiert auf der Problemlage der Zeit. So wurde Mendel durch die Resultate und Theorien der großen Züchtergärtner, Wichura und andere, und durch eigene Vorversuche zur Konzeption seiner Hypothese der Vererbung geführt. Er ist sich des hypothetischen Charakters dieser Konzeption voll bewußt: „Die hier versuchte Zurückführung des wesentlichen Unterschiede in der Entwicklung der Hybriden auf eine dauernde oder vorübergehende Verbindung der differierenden Zellelemente kann selbstverständlich nur den Wert einer Hypothese ansprechen, für welche beim Mangel an sicheren Daten noch ein weiterer Spielraum offen stände." Das Entscheidende ist nun, daß die freigewählten Annahmen von der Unabhängigkeit der Erb-„Merkmale", ihrer vorübergehenden Verbindung im Bastard, ihrer Trennung bei der Bildung der „Befruchtungszellen", ihrer rein zufälligen Kombination bei der Befruchtung in dieser Hypothese in einer Weise logisch verknüpft sind, die es gestattet, die Hypothese durch planmäßig angelegte Versuche zu verifizieren oder zu falsifizieren. Und Mendel selbst hat in methodisch vorbildlicher Weise die grundlegenden Versuche ausgeführt und diese haben die Hypothese verifiziert. Und seither haben Tausende von Versuchen und Beobachtungen an Pflanze, Tier und Mensch seine Hypothese verifiziert, und wo dies nicht der Fall war, da war gerade die Falsifizierung der Hypothese der Weg zur tieferen Einsicht in das Erbgeschehen. Die Chromosomenlehre der Vererbung, die Theorie vom Gen und von der Mutation, das ganze Gebäude der modernen Vererbungslehre, das alle Gebiete der Biologie in neuer Weise verbindet, umfaßt und belebt, ist auf Grund des hohen heuristischen Wertes der Mendelschen Hypothese erstanden. Es ist, als ob Mendel diese Entwicklung vorausgeahnt hätte, wenn er — noch ohne jede Kenntnis der Chromosomen und ihres Verhaltens bei Befruchtung und Gametenbildung — sagt: „Die unterscheidenden Merkmale zweier Pflanzen können zuletzt doch nur auf Differenzen in der Beschaffenheit und Gruppierung der Elemente beruhen, welche in den Grundzellen derselben in lebendiger Wechselwirkung stehen", und an anderer Stelle: „Diese Entwicklung erfolgt nach einem konstanten Gesetz, welches in der materiellen Beschaffenheit und Anordnung der Elemente begründet ist, die in der Zelle zur lebensfähigen Vereinigung gelangten. “ Mit dem Molekülmodell des Gens ist die experimentelle Vererbungsforschung wahrhaftig bis zu den Grundelementen des Lebendigen vorgestoßen. Die Lehre und Forschung, die von der Wiederentdeckung der Mendelschen Gesetze ihren Ausgang nahm, ist heute an den meisten Hochschulen fast aller Kulturländer durch eigene Lehrkanzeln oder Forschungsinstitute vertreten, bei uns in Österreich konnte leider noch keine Gründung dieser Art erreicht werden.

Jedem biologisch Gebildeten ist es klar, daß die durch Mendels bastardanalytisch Methode eingeleitete Entwicklung der Vererbungsforschung zu einer unschätzbaren Bereicherung unseres Wissens geführt hat, darunter zu Ergebnissen, die, wie die Chromosomenlehre und die Lehre von der Mutation, zum unverlierbaren Bestand der Naturwissenschaften gehört. Jeder künftigen Entwicklung der Biologie, was immer sie auch bringen mag, werden diese Ergebnisse zur Grundlage dienen müssen. Um so unbegreiflicher ist die leidenschaftliche Ablehnung des „Mendelismus" und der Chromosomenlehre durch’ die Richtung Lysenkos in der russischen Biologie. Diese Erscheinung beansprucht in viel höherem Maße das Interesse des Kulturhistorikers und des Philosophen als das des Biologen. Wenn in dem zum Teil ausgezeichneten russischen Film „Die Welt soll blühen", der dem Andenken des großen russischen Züchters Mitschurin gewidmet ist, ein Dorfpope vor 1900 — zu einer Zeit, da auch dem Fachmann die kleine Arbeit Mendels völlig unbekannt war — gesteht, daß er durch di Lektüre der Werke Darwins seinen Glauben verloren, durch das Studium der Arbeit Mendels aber den Glauben wiedergewonnen hätte, so ist das mehr als eine komische Entgleisung des Propagandaleiters. Es beweist dies, in welcher Verzerrung die weltanschauliche Voreingenommenheit die Gestalt und das Werk Mendels sieht. Es gibt sicher keinen Menschen, der in seinem Gottesglauben durch die kleine, nüchterne Experimentalarbeit Mendels irgendwie beeinflußt worden ist. Und auch jene, die meinen, durch die Lektüre der Werke Darwins ihren Glauben verloren zu haben, irren oder heucheln. Sie hatten ihren Glauben schon längst verloren, als sie in dieser Lektüre eine Entschuldigung dafür zu suchen begannen. Über Glaube und Unglaube, wenn es letzteren überhaupt gibt, wird auf einer anderen Ebene entschieden.

Im nächsten Jahr wird ein halbes Jahrhundert verflossen sein, seit Correns, De Vries und Tschermak-Seysenegg unabhängig voneinander und zunächst ohne jede Kenntnis der Arbeit Mendels die Zahlengesetze der Bastardspaltung wieder entdeckten und damit den Aufschwung der modernen Vererbungswissenschaft einleiteten. So ist Wien mit eine der Geburtsstätten dieser Wissenschaft und Hofrat E. Tschermak-Seysenegg der letzte lebende Zeuge dieser historischen Entdeckung. Es ist zu hoffen, daß es die Verhältnisse gestatten werden, dieses Jubiläum im nächsten Jahr durch ein internationales Treffen von Genetikern in Wien zu feiern.

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