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Ein aphoristischer Bildungsroman

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Gewohnt, der Zerstörung hergebrachter Kunstformen durch Akte echter wie angemaßter Avantgardismen beizuwohnen, findet man sich in „Sonne und Mond“ von Albert Paris Gütersloh einer charakteristischen Niederschrift des Wiener Maler-Schriftstellers gegenüber, die in Duktus, Vokabular und Denkstil zwar vom hochgestapelten, total längst nicht mehr überschaubaren tradierten Wissensmaterial zehrt, anderseits aber, in einer Geste der Verneinung, voll Clownerie, ein elegantes Abrutschen von den bisher möglichen Romanformen zelebriert. Ein revolutionärer Akt fehlt ebenso wie ein evolutionärer; es geschieht ein Drittes: das Wort, die Sprache macht sich selbständig, in einem expressiven Krisenstil par excellence.

Die 820 Seiten des Buches sind, listig irreführend, hinter das Motto gestellt: „Ein Haufen aufs Geratewohl hingeschütteter Dinge ist die schönste Weltordnung.“ Dieser zweieinhalbtausend Jahre alte Satz des dunklen Herakleitos könnte ein Alibi abgeben für eine, sagen wir tachistische, Unterart des zeitgenössischen Romans, keinesfalls aber für eine ausgeklügelte, kontinuierlich gelenkte Aufschwellungsform des ehrwürdigen Bildungsromans. Dahin deutet, daß der Autor selbst, „lexikale Weite mit definitorischer Spitzfindigkeit vereinend“, das Werk als eine Art Lehrbuch, als Materiologie aufgefaßt sehen möchte.

Das Minimum an Handlung ist Vorwand für die Entfaltung offener und versteckter Begriffs- und Beziehungsallegorien, dergestalt, daß adjektivgeladene Metaphern und Aphorismen einander, trächtigen Bakterienstämmen gleich, fortzeugend gebären, bis zu jenen Punkten einer verabsolutierten Formulierungsakribie, wo diese eklatant in ihr Gegenteil umschlägt. Der Reiz des Werkes liegt in seiner brillanten Äußerlichkeit, in seinem spielend durchgehaltenen Als-ob-Charakter. Sentenzen über Sentenzen, manche davon im Laufe dreier Jahrzehnte zurechtgeschliffen und poliert, vorgetragen in würdevollem bis emphatischen Repräsentationsstil, hyperbolische Gedankenschlingen — dies mag einen Geschmack nach Gegenreformation, nach barocken Bekehrungszwängen erwecken. Jedoch, tritt man näher hinzu, entdeckt man, amüsiert, mit einem Augenzwinkern sich angesprochen fühlend, daß der scheinbar waltende Ordogedanke durchaus heterodox, die Syllogismen reversibel sind, die propagandistisch überredende Rhetorik allein sich selbst meint. Einem imaginären Atompilz ähnelnd schimmert das Gebilde über dem Bildungstrümmerfeld unserer Kultur, gefährlicher scheinend als es ist. Die Polypenarme einer unersätt-sichen Weltbewältigungslibido ergreifen rastlos Gegenstand um Gegenstand, artistisch raffinierte Jongleurkunst ausübend. Doch Trick und Gegentrick, Sophistik und Stoa, Ponsophien und Katholizitäten heben einander restlos auf. Was bleibt ist eine Nova, ein in sich rotierender Spiralnebel, frei von polarisierter Strahlung, ohne die Virulenz eines Zielkontinuums — beleuchtet von einer Sonne, diesseits eines Mondes, die seit dem Barock für untergegangen gehalten werden durften.

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