"Heute lasse ich das Auto überhaupt zuhause"

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Nach seiner ORF-Karriere wurde Rudolf Nagiller zum Apologeten gesunder Bewegung. Ein Gespräch über die erfrischende Routine des Gehens.

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Nach seiner ORF-Karriere wurde Rudolf Nagiller zum Apologeten gesunder Bewegung. Ein Gespräch über die erfrischende Routine des Gehens.

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Fortbewegung aus eigener Kraft steht beim 73-jährigen Rudolf Nagiller fast täglich auf dem Programm. Zum FURCHEI-nterview in der Innenstadt ist er von Perchtoldsdorf aus geradelt.

DIE FURCHE: Sie sind vom begeisterten Läufer zum passionierten Geher geworden. Wie kam diese Wandlung?

Rudolf Nagiller: Ich war 50 und habe ein weitgehend bewegungsloses Leben geführt. Damals habe ich mir gesagt: Das kann nicht so weitergehen. Ich absolvierte ein Laufseminar und bin dann lange Zeit sechsmal pro Woche gelaufen, oft gleich am Morgen. Das war schon eine tolle Sache, der Tag fängt ganz anders an. Vor zehn Jahren bekam ich Probleme mit dem Fuß und setzte das Laufen für Wochen aus. Danach habe ich beschlossen, auf Gehen umzustellen. Später ist das Radeln dazu gekommen. Ich kam zu der Einsicht, dass das Laufen immer noch das Problem hat, dass man es planen muss, also nicht gut in den Alltag einbauen kann.

DIE FURCHE: Wie haben Sie das Gehen in Ihren Alltag integriert?

Nagiller: Ich wohne in Perchtoldsdorf, und fuhr früher immer mit dem Auto in die Stadt. Dann kam die zweite Phase: Ich stellte das Auto in Siebenhirten ab und fuhr mit der U6 weiter. "Wie fortschrittlich!", dachte ich mir. Schließlich kam Phase Nummer drei: Ich gehe eine Viertelstunde zur Schnellbahn und lasse das Auto überhaupt zuhause. In der Stadt steuere ich das Ziel nicht immer direkt an und gehe lieber zu Fuß, obwohl es noch "Öffis" gäbe.

DIE FURCHE: Messen Sie Ihr tägliches Bewegungspensum?

Nagiller: Jetzt gehe und radle ich fast jeden Tag, mindestens eine Stunde. Im Hintergrund ist die Idee, dass der Mensch 10.000 Schritte pro Tag braucht. Bei einem sitzenden Büroalltag kommt man nur auf circa 3000 bis 4000 Schritte.

DIE FURCHE: Aber ist das nicht ein rein quantitativer Zugang, den Sie in Ihrem Laufbuch "Gentle Running" abgelehnt haben? Da geht es doch primär um die Qualität der Bewegung ...

Nagiller: Ja, Leistungsdruck hat da nichts verloren, es geht nicht um ein Schneller, Höher und Weiter - so war das gemeint!

DIE FURCHE: Sie vertreten die These, dass Sport eigentlich abträglich für das "Bewegungsleben" ist ...

Nagiller: Wenn man Bewegung als Sport betreibt, kommt man erstens in die Leistungsfalle. Zweitens wird sie zur Freizeitbeschäftigung, beschränkt auf das Wochenende - man braucht die Bewegung aber jeden Tag. Und irgendwann wird man sich sagen: "Jetzt bin ich aber schon zu alt dafür." Aber gerade im Alter braucht man die Bewegung umso dringlicher. Für Sport mag man eines Tages wirklich zu alt sein. Für Bewegung, wie ich sie verstehe, gilt das nicht.

DIE FURCHE: Beschäftigen Sie sich noch damit, wie man die Bewegungsabläufe effizienter und schonender machen kann?

Nagiller: Manchmal mache ich das spielerisch, etwa wenn ich eine Stiege hinaufgehe und auf die Vorwärtsneigung und Ganzkörperbewegung achte. Aber letztlich muss man die Bewegungsmuster internalisieren. Man kann übrigens auch beim Sitzen auf die Bewegung achten. Ich habe zuhause meinen Bürosessel gegen einen Hocker getauscht. Da mich keine Lehne mehr hält, werden die Rückenmuskeln gefordert. Ich habe keine Rückenschmerzen, das ist in meinem Alter nicht selbstverständlich!

DIE FURCHE: Bemerken Sie auch geistige Effekte des Gehens?

Nagiller: Frische Luft plus Bewegung bedeutet eine bessere Durchblutung des ganzen Körpers, also auch des Gehirns, das ja besonders viel Futter braucht. Dann fliegen einem gute Ideen zu: Ich habe den Eindruck, dass man kreativer wird. Und ich behaupte, diesen Effekt können Sie nicht haben, wenn Sie sich auf die Leistung konzentrieren.

DIE FURCHE: Wie sehen Sie die Entdeckung des Gehens im historischen Kontext, aus Ihrer Biografie heraus?

Nagiller: Meine Generation ist in die Vollmotorisierung hineingewachsen. Mit dem ersten selbst verdienten Geld hat man sich ein Auto gekauft. Und dann wollte man dieses unbedingt nutzen: Mein Schwiegervater ist sogar zum Zigarettenholen 200 Meter mit dem Auto gefahren. Das ist eine reine Kopfsache: Dass meine Frau und ich unser Auto oft eine Woche lang stehen lassen, hätte mein Schwiegervater nicht verstanden.

DIE FURCHE: Haben Sie eine Vision im Hinblick auf den gesellschaftlichen Stellenwert des Gehens?

Nagiller: Wir haben lernen müssen, mit der Vollmotorisierung richtig umzugehen, aber das dauert eben eine Generation. Noch für meine Großeltern war die Bewegung eine Last. Mein Großvater war Zimmermann, die einseitige Belastung hat ihn körperlich ziemlich deformiert. Dann kamen die Maschinen. Immer weniger Menschen mussten körperlich arbeiten. Nachdem wir uns von der Last der Bewegung befreit haben, müssen wir uns heute von der Last der Bewegungslosigkeit befreien.

Das Gespräch führte Martin Tauss

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