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Brief an einen Arzt

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In diesem kleinen, weißen Krankenzimmer, das kein konfektioniertes Entzücken auslöst, haben Sie meine grausamen Zeiten, haben Sie mein Leben, in dem der Sonnenhimmel eingestürzt, mein Selbst verfremdet war und die Nacht immerfort am Tag wohnte, wieder zu dem gemacht, was es einmal war: ein Dasein der Harmonie meiner Existenz mit meiner Welt; eine heikle und komplexe Aufgabe; ist doch das Wirken des Arztes durch den Verfall der inneren Ausgeglichenheit des Patienten, durch seine Krise, wesentlich erschwert. Ich war so müde, wie man es durch Alter kaum werden kann. Die „große“ Krankheit scheint kein Zufall zu sein, sondern ein mit der leib-seelischen Konstitution des Kranken korrespondierendes Schicksal. Tch fühle mich tief und entscheidend bewegt. Nicht umsonst hat der große Denker Pascal das „Gebet um den rechten Gebrauch der Krankheit" verfaßt: „... DU bist nicht weniger Gott, wenn DU heimsuchst und strafst, als dann, wenn DU tröstest und Nachsicht übst...“

Vielleicht zählen die Wochen und Monate meiner Genesung, die wie jede Lebensphase eine Aufgabe besitzen, zur besten Zeit meiner Jahre; wird man doch Mensch nicht allein durch die Bewährung in Beruf und Familie, sondern auch durch Leiden und Krankheit.

Mein Vertrauen zu Ihrer Persönlichkeit, meine Dankbarkeit und Sympathie sind ein Affekt, der sich aus den Tiefen des Krankseins nährt, aus jenen Tiefen, die Egon Frieden in seinen Betrachtungen über den „Wert der Krankheit“ als eine gesegnetere, erleuchtetere, lebensträchtige Verfassung bezeichnet. „Alles Höhere ist naturgemäß das Kränkere ... Je höher ein Organismus entwickelt ist, desto nervöser ist er...“ Nun bin ich Rekonvaleszent und als solcher in einem eigentümlich leichten, beschwingten, befeuerten Zustand. Die völlige Genesung ist nach Friedeil manchmal ein Rückschritt. Ewig Rekonvaleszent sein dürfen! Trunken von Versen, von großen Entwürfen, die in die Tat des Kunst- wertes umzusetzen man als Dilettant zwar nicht vermag, wohl aber das Wiederanschließen ans schmerzlich Unterbrochene.

„•... Zunächst aber jedenfalls sich in einen Garten legen“, schreibt Kafka an Milana, „und aus der Krankheit, besonders wenn es keine eigentliche ist, so viel Süßigkeit ziehen, als nur möglich. Es ist viel Süßigkeit darin.“ Die Affinität zu den Grenzempfindungen, das Suchen, das Vermuten und Erwarten ist wieder erwacht und damit die erste schüchtern keimende Inspiration.

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