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Bewußtseinsänderung durch Manipulation Gleichheit durch Leistungsdämpfung

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Der „Problemkatalog für das neue Parteiprogramm” - im Aufträge des Parteivorsitzenden verfaßt - ist nur im Titel ein Understatement. Tatsächlich handelt es sich um sehr konkrete Lösungsvorschläge, denen es an wünschenswerter Deutlichkeit keineswegs fehlt.

Das Kernstück der Vorschläge der „mehr als 60 Sozialisten, Praktiker und Theoretiker verschiedener Gebiete” für die Phase „nach dem Wohlfahrtsstaat” ist im Abschnitt „Erziehung, Kultur, Forschung” die Charakterisierung unserer Bildungsinstitutionen als solche, die „Vertrautheit mit mittelschichten-spezifischen, sozialen und kognitiven Formen der Verarbeitung von Erfahrungen und das Vorhandensein von mittelschichtenspezifischen Motivstrukturen und psychischer Leistungsfähigkeit” voraussetzen. Durch die „Gesamtheit der politischen, juristischen, moralischen, kulturellen und weltanschaulichen Einrichtungen und Ideen” werden „ständig die Wertvorstellungen, emotionellen Grundhaltungen und Bewußtseinbildungen verursacht und verstärkt, die der Aufrechterhaltung und Sicherung unseres auf Ungleichheit basierenden Gesellschaftssystems dienen”.

Diese Einstellung werde durch eine bürgerlich dominierte „Bewußtseinsindustrie” verfestigt, als deren zentraler Teil die Massenmedien verstanden werden, so daß „die Macht und der Einfluß der Werte der bürgerlichen Gesellschaft, gegen welche sich ja gerade eine sozialistische Gesellschaftspolitik richten sollte, bereits die Grenzen dieser sozialistischen Politik bestimmen”.

Art Stelle dėrbisherigen Maxihie der Integfatiori’ in die bürgerliche Medienpolitik soll daher die „Verwirklichung einer sozialistisch bestimmten Gegenöffentlichkeit” zur „Transformation der bürgerlichen Medienland- schaft in Österreich” ansetzen.

Worin äußert sich dieses bürgerliche, „mittelschichtenspezifische” Wertsystem, dem der Kampf angesagt wird? Hier können nur einige Bei spiele angeführt werden: Das österreichische Bildungssystem reproduziert nach wie vor die ungleiche Verteilung der Lebenschancen. Der stark auf Leistungsüberprüfung ausgerichtete Unterricht erzeugt in Schülern und Studenten’die Disposition, Leistungsanforderungen generell als Bestandteil institutioneller Pflichterfüllung wahrzunehmen und sich nicht inhaltlich mit ihnen auseinanderzusetzen.

Das Bildungsziel ist, den Lernenden „soziale Ungleichheit und Ausbeutung als objektive Gesellschaftsmechanik plausibel zu machen”. Hauptziel der Lehrlingsausbüdung sei die Herstellung von Loyalitätsbindungen an den Betrieb, die zur kontinuierlichen innerbetrieblichen Herrschaftssicherung notwendig sind, wozu die „Ausbildung als billige Arbeitskraft” und die „Einordnung in hierarchische Befehlsbeziehungen” gerechnet werden.

Auch nach der Beschlußfassung des

Universitätsorganisationsgesetzes habe das Hochschulsystem seinen Klassencharakter nicht verloren. Studium bedeute nach wie vor Privüeg gegenüber der Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung. Wissenschaftliche Lehre und Forschung stünden in keinem diskutierbaren und kontrollierbaren Verhältnis zu den Bedürfnissen der breiten Öffentlichkeit.

Das „Sozialisationsziel” einer sozialistischen Erziehungspolitik („individuelle Entfaltung in solidarischen Beziehungen”) lasse sich im Ausbildungsziel nicht einlösen, wenn nicht „gleichzeitig grundlegende Veränderungen im Bereich der Prdoduktion, Verteilung und politischen Verwaltung” stattfinden.

Die Nivellierung der Bildungsziele nach unten findet u. a. folgende Formulierungen: Abbau der Leistungsdifferenzierung zugunsten von Modellen dei Kooperation von Schülern mit unterschiedlichen Eingangsvoraus setzungen; Aufhebung der notenmäßigen Beurteüung im Pflichtschulwesen, zumindest in der Grundschule; Abschaffung der Schularbeiten und der Aufnahmsprüfungen in den AHS; Abschaffung der Reifeprüfung in der herkömmlichen institutionalisierten Form; Abschaffung des Repetierens im Pflichtschulbereich, statt dessen Einführung von Förderungsmaßnahmen.

Die „Demokratisierung” soll die Ausweitung der Mitbestimmungsrechte der Schüler auf die Lehrinhalte, die Methoden und die Wahl der Lehrer bringen. Uber Forschungsvorhaben soll auf Grund von Verfahren entschieden werden, die die „Berücksichtigung sozialer Relevanzkriterien zwingend vorschreiben und einen Vergleich zwischen Forschungsvorhaben unter dem Gesichtspunkt relativer sozialer Wirklichkeit ermöglichen”.

Das soll alles der „Verwirklichung einer klassenlosen Gesellschaft” dienen, die „gleichsam als kategorischer Imperativ weiterhin das dominierende Ziel einer sozialistischen Gesellschaftsreform” ist.

Was hier als mittelschichtenspezifisches, bürgerliches Wertsystem zum Objekt gesellschaftspolitischer Zertrümmerung programmiert wird, enthält sicherlich einzelne Anliegen, die auch Gegenstand einer nicht nur sozial verantwortungsbewußten, sondern auch einer Bildungspolitik sein müssen, der es um die Mobilisierung aller Begabungen eines Volkes zu tun ist, aber immerhin in einem Ausleseprozeß, der die möglichst volle Entfaltung der sehr unterschiedlichen Begabungen fördert, ohne die in einer jeweils bestimmten Hinsicht weniger Begabten unmenschlich zu überlasten.

Dieser sozialistischen Gesell- schaftskonzeption Hegt ein Menschenbild zugrunde, das Vön einer ganz wirklichkeitsfremden Gleichheitsvorstellung ausgeht: von der völligen Ignorierung der in Richtung und Qualität sehr unterschiedlichen Ausbildungskapazität bis zu der der „geschlechtsspezifischen” Unterschiede.

Und das soll in einer Umänderung des bestehenden „bürgerlichen” Wertsystems durch eine offensive „sozialistische Gegenöffentlichkeit zur Bewußtseinsänderung” verwirklicht werden können! Wobei sich die Autoren darüber völlig im klaren sind, daß sie damit gegen die „Einstellung, Werthaltung und Urteile weitester (!) Bevölkerungskreise” ankämpfen und das Selbstverständnis der Medienarbeiter (Journalisten u. a.) selbst „weitgehend (!) bürgerlich geprägt” ist! Auf diese totalen Bewußtseinänderer könnte der Seufzer des im Exü resignierten Kurt Tucholsky gemünzt gewesen sein: „Diese Sozialisten haben keinen Funken Psychologie und verstehen nichts, aber auch nichts von der Struktur des Menschen.”

Das Wertsystem, das der Sozialismus hier bekämpft, enthält offenbar auch Werte, die den Menschen kraft seiner Natur von allen anderen Lebewesen unterscheidet und ohne Verstümmelung seines Persönlichkeitsbildes nicht grenzenlos manipuliert werden können. Der „Mittelschicht”, die hier unter Beschuß genommen wird, fühlen sich heute gut zwei Drittel aller Österreicher zugehörig. Wie haben sich das die Frauen und Männer jenes Sozialismus verdient, der sich selbst als Kontinuum des Strebens nach einer menschenwürdigen Gesellschaft (Norbert Leser) begreift!

Wenn der kalte Schauer, den das Studium dieses Problemkataloges ob einer solchen Zukunfts vision auslöst - heute als „provokative Denkanstöße” bezeichnet -, beabsichtigt war, dann kann dieses Vorhaben wohl als voll gelungen bezeichnet werden.

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