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Tradition und Fortschritt

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Es gibt auf den verschiedenen musischen und wissenschaftlichen Gebieten „Wiener Schulen“. Eines ist allen gemeinsam: Sie sind keine Schulen im eigentlichen Sinn. Stets handelt es sich um einzelne Persönlichkeiten, die weniger im Miteinander als im Gegeneinander neue Gesichtspunkte erkennen, abrunden und mit dem Einsatz ihrer kompletten Persönlichkeit vertreten. Sie entspringen einer älteren Tradition und schaffen eine neue ...

Aus der Tradition entsprungene, doch eigenwillig schöpferische Persönlichkeiten sind von vornherein jeder Gleichmacherei und Fortschrittshysterie abhold. Lehr-, Lern-und Forschungsfreiheit ist und bleibt ihr höchstes Gut. Sie sind nicht bereit, „zielführende Lernprozesse“ durchzumachen, um die ihnen anvertrauten angehenden Akademiker zu „motivieren“, und sind nicht bereit, in kleinen Gruppen zu pauken und angelsächsische Tutorsysteme kritiklos nachzuahmen.

In dieser Eigenständigkeit des Akademikers liegt wohl die Ursache seines Mißtrauens gegenüber jeder politischen Institution. Je stärker eine „politische Linie“ gefordert wird, um so klarer ergibt sich die Unvereinbarkeit einer akademisch erzogenen Persönlichkeit mit einem politischen System. Nivellierungs-versuche, selbst Chancengleichheit müssen den akademischen Lehrer entmutigen. Geplantes Lehren und Lernen können ebensowenig wie geplante Forschung Neues vermitteln oder entstehen lassen (Illich).

Statt Akademiker Erfüllungsgehilfen?

Die immer wieder von sozialistischer Seite geforderte Trennung von Forschung und Lehre würde nicht Akademiker erziehen, sondern Erfüllungsgehilfen von Institutionen produzieren, die „geschult“ nachplappern, statt jede Entscheidung, die sie später zu treffen haben, immer wieder von Grund auf neu zu erfinden und nur damit imstande zu sein, auch die volle und persönliche Verantwortung zu übernehmen, ohne sie dem mehr oder weniger manipulierten Votum einer Kommission zu überlassen.

Fortschritt kann nur aus Tradition hervorgehen. Ohne Einfälle von Einzelpersönlichkeiten, die in dieser Tradition eingebettet sind und gleichzeitig über sie hinauswachsen, wären wir nicht einmal Steinzeitmenschen geworden. Skeptizismus zieht sich durch alle Wiener Schulen, auch durch die medizinischen, und der Zweifel ist, wie Sokrates betont, der Urgrund jeder Erkenntnis. Jede Tradition und jede Neuerkenntnis müssen erst einmal angezweifelt werden, um dem Neuen Platz zu machen und schließlich den richtigen Stellenwert zu geben.

Der Akademiker wird heute weitgehend mit dem Intellektuellen gleichgesetzt, und man muß sich die Frage stellen, ob Ärzte, Richter, Architekten, Soziologen und auch Techniker überhaupt „Intellektuelle“ sind.

Als politisches Schlagwort kam diese Bezeichnung in doppelter Bedeutung um die Jahrhundertwende auf. Die Intellektuellen traten damals für die Revision des Dreyfuß-Prozes-ses ein und wurden durch ihre Gegnerschaft zu Hof, Adel, Armee, Großbürgertum und Klerus als gesellschaftskritisch und damit linksstehend eingeordnet. Anderseits hat man ihre gesellschaftliche Rolle und Bedeutung kritisch in Frage gestellt.

Die an der Macht Befindlichen standen und stehen dieser Gruppe stets mißtrauisch gegenüber, weil sie schlecht einzuordnen ist und Gesetze und Verordnungen nicht einfach als gottgegeben ansieht. Durch ihre Ausbildung und geistige Tätigkeit sind sie aber führend in der Gesellschaft tätig, wenn auch manchmal nur durch ihre kritisierende und boebachtende oder auch betont distanzierte Haltung.

Die entsetzlichen Negativerfahrungen aus der Zeit des Dritten Reiches haben, wie der deutsche Soziologe Schelsky schreibt, die Nachkriegsgesellschaft in zwei Teile gespalten: in die „skeptische Generation“ und den „nivellierten Mittelstand“ - mit Antiideologie und Mißtrauen gegen alle großorganisatorische Bürokratie und gegen etablierte Verbände und einer fundamentalen Abscheu gegen jede Form der Gewalt und einem Zurückziehen auf sich selbst.

Schelsky stellt Blochs „Prinzip Hoffnung“ das „Prinzip Erfahrung“ gegenüber. Während erstere eine fundamental religiöse, heilsgläubige Lebenseinstellung auch im Politischen und Sozialen bedeutet, zerbricht das „Prinzip Erfahrung gerade alle ideologische und utopische, metaphysische und heilsgläubige Lebensselbstbestimmung“.

Für den akademischen Lehrer unserer Generation ist die Darstellung Schelskys eine grundsätzliche Einsicht. Wir können unsere Lebenserfahrung, die durch bittere Enttäuschungen, Tod und Not, Grauen und Grausamkeit geprägt wurde, nicht auf die Jugend übertragen. Wir können nur versuchen, sie zu eigenständigen Menschen zu erziehen, die nur ihrem Gewissen gehorchen, in ihrem Gegenüber den Menschen sehen und das niemals zugunsten einer politischen Linie vergessen. In gleicher Weise ist es aber unsere ärztliche Aufgabe, Leben und Tod des Menschen individuell und nicht als statistischen Befunden zugeordnet zu betrachten.

Intellektualismus ist nur die eine Seite des Akademikers, die andere muß seine individuelle Menschlichkeit sein - nicht gegenüber einer anonymen Gesellschaft, sondern gegenüber dem einzelnen Mitmenschen. Diese Prinzipien einer neuen Schule sind politische, ob sie sich mehr rechts oder links ansiedeln, ist dabei vorerst nicht ausgemacht. Jedenfalls aber fügen sie sich nicht in ein System ein.

Ein Hort der Rechten ...

Wenn auch der Slogan „Freiheit oder Sozialismus“ übertrieben, vielleicht sogar gehässig ist, so steht doch die Freiheit des einzelnen in gemeinsamer Unterordnung unter ein göttliches Prinzip eher rechts als links. Eine sozialistisch-akademische Schule präsentiert sich derzeit als Alptraum von mißbrauchter Mitbestimmung, nivellierender PseudoChancengleichheit und als ein Uberwuchern von egoistischen Rechten über opferbereite Pflichten.

Akademiker im traditionellen Sinn werden immer ein Hort der Rechten sein, solange sich die politische Rechte nicht als Linksüberholer gebärdet und die Linke ihre egoistisch-materialistische Gleichmacherei nicht aufgibt.

Dieser Beitrag ist, leicht gekürzt, der Sondernummer „Politik und Geist (Denken ohne Dogmen)“ des Institutsfür Wirtschaft und Politik entnommen. Der Autor ist Vorstand der Wiener Universitätsklinik für Chemotherapie und Vizepräsident der Wiener Medizinischen Akademie.

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