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Die Zerrissenen

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Es gibt eine Fülle von Studien über die psycho-soziale Situation des „kleinen Mannes". Was aber fehlt, das ist Material über das Innenleben jener Personen, die ganz maßgebend über unsere Zukunft entscheiden — die Politiker.

Persönliche Erfahrungen, Gespräche und Kontakte mit Politikern können eine Annäherung an das Thema möglich machen. Sie können aber eine genaue psychologische Studie nicht ersetzen, sondern sollen sie im Gegenteil provozieren.

Der typische Abgeordnete zum Nationalrat ist männlich — wie 90 Prozent aller Abgeordneten, rund 50 Jahre alt, Akademiker — wie 35 Prozent aller Abgeordneten, im Hauptberuf Funktionär einer Interessenvertretung — wie rund die Hälfte aller Abgeordneten.

Er ist — wie der Großteil seiner Kollegen — im Laufe der Aufstiegsjahre in einem hohen, fast schon selbstverleugnenden Ausmaß anpassungsfähig geworden.

Die Kontrolle eines Durchschnittsabgeordneten durch die Partei- bzw. Fraktionsführung ist ungeheuer stark; ihr obliegt schließlich die Entscheidung darüber, ob jemand wieder an wählbarer Stelle auf der Kandidatenliste aufscheint, sie beschließt über Rednerlisten oder die Einbringung von Anträgen.

Das gängige Muster des Aufstiegs in Spitzenpositionen erfordert geradezu Tugenden wie: Warten-Können, Freundlichkeit mit einem Schuß Schlitzohrigkeit, gute Kontakte zu wichtigen Männern, fleißige Arbeit ohne rebellische Ideen. Wen wundert es da, daß schillernde Persönlichkeiten so selten anzutreffen sind.

Die politische Führungsschicht dieses Landes bewegt sich immer unter ihresgleichen: Politiker, Spitzenbeamte, Interessenvertreter, Journalisten - sie alle bevorzugen ähnliche Lokale, treten vor einem ähnlichen Publikum auf. besuchen dieselben Veranstaltungen oder Eröffnungsfeierlichkeiten.

Die Gründe dieser „politischen Inzucht" liegen tief in der politischen Kultur Österreichs verwurzelt. Da gilt Konfliktvermeidung als oberstes Gebot harte Sachauseinandersetzungen gelten schon als beinahe undemokratisch. Uber Resignation und Selbstzweifel erfährt man wenig. Aber diese Zweifel sind manchmal sehr existenzielle: sie beziehen sich auf Sinn und Effizienz der eigenenTätigkeit, auf Hektik, oberflächliche Routine und die Unmöglichkeit eines erfüllten Lebens.

In aller Regel muß bei Politikern aber ein geradezu erschrek-kender Mangel an der Fähigkeit und Bereitschaft, den bisherigen Weg in Frage zu stellen, konstatiert werden. Die Psychologie nennt Personen, die zu einer ständigen Überhöhung der eigenen Auffassung neigen, narzistisch gestört.

Das tägliche Leben eines Politikers ist durch Streß, Hektik und Terminnot gekennzeichnet. Die Abende unter der Woche sind verplant, selbst an den Wochenenden muß Platz sein für Parteiveranstaltungen, Kongresse oder Besuche „bei den Menschen draußen".

Die ganze Entpersönlichung des Politikeralltags, der Zwang zu ständiger Präsenz, das hat ganz handfeste Wurzeln: die Suche nach Erfolgserlebnissen.

Wenn sich der bäuerliche Abgeordnete in einem Wirtshaus seines Heimatbezirkes im Applaus seiner Parteifreunde und Standeskollegen badet, dort Kompetenz und Einfluß demonstriert, wenn ein anderer bei einer Tagung von Gewerkschaftskollegen „auftaucht", so sind das Erfolgserlebnisse, die er im Parlament oder in den Parteigremien, wo vieles vorentschieden, festgelegt und ausbalanciert ist, nicht hat.

Natürlich bleiben Privatleben und Familie bei diesem Termindruck vielfach auf der Strecke. Die bloße Scheidungsziffer der Abgeordneten sagt über diesen Zustand nichts aus, sie verschleiert ihn eher. Ehen werden zumeist aufrechterhalten, um zumindest den Schein zu wahren.

Daß es unter einer heilen Oberfläche aber manchmal gewaltig brodelt, kommt bei tragischen Ereignissen zum Ausdruck: beim Selbstmord einer Politikergattin, beim Drogentod eines Politikerkindes.

Es ist also schwierig, ein erfolgreicher Politiker und darüber hinaus auch noch Mensch zu sein. „Mensch-Sein" bedeutet: Spontaneität, Abwechslung, Leben mit Widersprüchen, Wechsel von Hoch und Tief, von innerer Ruhe und schöpferischer Aktivität.

Die Eigengesetzlichkeiten des politischen Systems und die psychischen Eigenschaften jener, die darin groß werden und Erfolg haben, machen andere Werte (über)-lebensnotwendig: kritiklose Anpassung, Gefühlskälte, Oberflächlichkeit, Monotonie, Formalismen, Hektik.

Hier liegt die tiefere Ursache für das Unbehagen vieler Bürger, für die zunehmende Entfremdung zwischen Wählern und Gewählten. Die Lebenswirklichkeit vieler Menschen, ob das der Stahlarbeiter oder die Aktivistin der Friedensbewegung ist, hat mit der eines Politikers fast nichts mehr gemein.

Die Kluft zwischen realer Welt und politischer Welt wird immer größer.

Der Autor ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am österreichischen Institut für Internationale Politik in Laxenburg bei Wien und war von 1981 bis 1983 politischer Referent der ÖVP-Bundesparteileitung.

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