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„Glücklich ist, wer vergißt..

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Der Verfasser dieser Zeilen, leitender Mitarbeiter des Fessel-Instituts, spricht aus Erfahrung: aus der des Sozialwissenschafters, der er ist, und aus der des einstigen NichtWählers, der er bekennt, gewesen zu sein.

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Der Verfasser dieser Zeilen, leitender Mitarbeiter des Fessel-Instituts, spricht aus Erfahrung: aus der des Sozialwissenschafters, der er ist, und aus der des einstigen NichtWählers, der er bekennt, gewesen zu sein.

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Die Zahl der NichtWähler bei Wiener Gemeinderatswahlen war in der Vergangenheit durchaus imposant - zumindest für österreichische Verhältnisse. Ausländische Vergleiche, mit denen man hierzulande vieles (und so auch dieses) zu beschönigen versucht, sind infolge anderer politischer Traditionen nur von begrenztem Interesse.

Zunächst ist es irreführend, von einer Nichtwählergruppe zu sprechen. Die Menge der Nicht-(Wahl-)handeln-den setzt sich aus unterschiedlichsten Personen zusammen, die die verschiedensten Gründe haben, das gleiche Verhalten nicht zu praktizieren. Unter jenen Personen, die in demoskopischen Untersuchungen erklären, nicht zur Wahl zu gehen, finden sich überproportional viele alte Menschen.

Einen hohen Anteil an NichtWählern stellen auch die , jüngeren Jahrgänge“ und Personen, die in gesellschaftlicher Isolation leben. NichtWähler finden sich freilich auch unter Akademikern und Gewerbetreibenden.

Für die Nichtteilnahme an der res publica muß es also noch andere Ursachen geben als gesundheitliche Immobilität oder jugendliche Wochenendmobilität.

Etwa ein Viertel der Wiener hat laut (m)einer Umfrage nicht das Gefühl, durch die Stimmabgabe am politischen Geschehen Wiens teilzunehmen. Fast ebensoviele finden es (1976) „ziemlich egal, ob der einzelne in Wien wählt oder nicht, weil die echten Entscheidungen ja doch woanders getroffen werden“. Ein Fünftel sieht keinen Sinn darin, wählen zu gehen, „weil sich an der pögMehr£eit ohnedies nichts

Andere Daten sind noch besorgniserregender: Etwa 70 Prozent glauben, daß „Leute wie ich keinen Einfluß auf das haben, was die regierenden Politiker tun“. Ebenso viele finden, daß sich „Beamte und Behörden nicht viel um das kümmern, was Leute wie ich denken“.

Man kann aber auch von politischer Entfremdung sprechen. Oder könnte schlicht formulieren, daß mancher Wiener gelernt hat, von der Politik soviel Notiz zu nehmen wie sie von ihm. Nun sind Resignation und Apathie, Entfremdung und Wurschtigkeit stets Produkte einer längeren Entwicklung. Es ist nicht so, daß sich der Wiener aus heiterem Himmel zum „Verlust seiner Bürgerpflichten“ verurteilt hat.

Der bürgerliche Quietismus, der Rückzug auf die private Idylle infolge äußeren Drucks, war auch im Bieder-. meier ein bekanntes Phänomen. (Daß manche Wahlkampfbroschüren der SPÖ ein Rokoko-„Bürgermeisterbild“ zeichnen, ist ein bloßer Zufall.)

Das Sich-Bescheiden in der Wirklichkeit hat(te) in Österreich unter anderem auch eine theologische Fundierung („die Wirklichkeit als Reich Gottes“). Ertragen, Fügen in höhere Gewalt, Vergessen und Kontemplation galten als Tugend und lebten auch in der Operettentradition fort: „Glücklich ist, wer vergißt...“ (Letzteres erfolgt durch Trinken, und in der Operette folgt darauf bekanntlich der Abgang mit dem Gefängnisdirektor.)

Die Konsequenz mangelnder gedanklicher Auseinandersetzung ist ein Mangel an Routine in politischer Aktion - ungenügende Partizipation als Folge ungenügender Einübung, bewußt oder unbewußt gefördert durch eine SPÖ-Wien, die sich als größte Bürgerinitiative (!) des Landes versteht und andere Partizipationsversuche, die nicht recht kontrollierbar sind, „einbremst“ (vorsichtig ausgedrückt).

Dem Bürger redet man ein, daß die große Partei oder der gute Bürgermeister alles richten werden. Man verfolgt eine „Polsterlstrategie“, lädt zum Ausruhen ein und suggeriert ein „Inselbewußtsein“. Die Propaganda kollidiert auch kaum mit der (auch) in sogenannten Intellektuellenkreisen verbreiteten Ansicht, derzufolge Politik als schmutziges Übel zu betrachten ist, von dem man sich fernhalten muß (solcherart „Schmutzfinke“ unter sich lassend).

Voraussetzung für eine Verbesserung des politischen Klimas in Wien ist nicht primär eine erhöhte Wahlbeteiligung (wiewohl ein Umschwung wichtig ist, weil sonst von der Mehrheitspartei aus dem Ergebnis Zufriedenheit mit allem und jedem herausgelesen wird), sondern vor allem eine erhöhte Bürgerbeteiligung zwischen den Wahlgängen.

Lediglich zur Wahl aufzurufen, heißt das Ritual zu verstärken, daß Wahlen vielfach sind: Man gibt die Stimme ab und erteilt damit einen Blankoscheck für Vergangenheit und Zukunft. Man kann auch aus wohlüberlegtem Protest einmal nicht wählen; aber man soll sich stets engagieren und aufmerksam sein, an der Kommunalpolitik mitarbeiten und nicht nur warten, was als nächstes passiert oder nicht passiert.

So wie es derzeit zu viele Taufscheinkatholiken gibt, gibt es auch zu viele Sonntagsdemokraten. Für viele ist Religion und Demokratie zu einer „Sonntagsaffäre“ degeneriert. Ansonsten wartet man auf die technischen Lösungen der Stadtplaner oder eine erlösende, alles erklärende Ideologie -auf Godot oder auf die Fertigstellung der U-Bahn.

In den letzten Jahren hat sich die Situation etwas gebessert. Das Interesse an Kommunalpolitik ist gestiegen, das Vertrauen in eigene Initiative ist ein wenig erhöht. Ab einem gewissen Bau-Lärmpegel oder beim Geräusch einstürzender Brücken ist die „Polsterlstrategie“ des „Es steht eh alles zum Besten“ schwieriger geworden. Aktionen wie Buseks „pro-Wien“ waren ein erster Versuch, nicht politisch zu dozieren, sondern die Bewohner Wiens dazu einzuladen, die Gestaltung ihrer Stadtwelt wieder mehr selbst in die Hand zu nehmen.

Das Interesse der Wiener an ihrer Stadt zu steigern und den Glauben an die Sinnhaftigkeit politischen Engagements zurückzugeben, ist nur ein erster Schritt für eine politische Partei mit neuem Schwung. Die Wiener wieder mehr zur Privatinitiative (auf Bezirks- und Stadtebene) einzuladen ist ein zweiter, wesentlicher. Damit nicht Karl Kraus recht behält, der die Stimmung der Wiener als „ewiges Stimmen eines Orchesters“ charakterisiert.

Es ist in Wien zuviel passiert und gleichzeitig zuwenig gemacht worden, als daß man ruhig zuschauen und daheimbleiben könnte. Die „Lauen“ werden zwar nicht mehr - wie es in der Bibel heißt - ins Feuer geworfen, aber „brennen“ müssen sie heutzutage trotzdem. Und sei es „nur“ die Bauringmilliarde.

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