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Dolchstoß ohne Legende

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Neben dem Balkan ist Skandinavien die zweite Achillesferse I des freien Westens, denn: Finn-| lands Souveränität findet ihre engen Grenzen bereits an der von der sowjetischen Botschaft in Helsinki ausgeübten Pressezensur; Schweden ergreift keineswegs nur in der Vietnamfrage die Partei des Weltkommunismus; Dänemark honoriert das Werben russischer Spitzenpolitiker mit dem Abbau seiner Landstreitkräfte; und Norwegen — also, wenigstens bei Norwegen durfte man noch gewisse Hoffnungen hegen, trotz der moralisch und materiell geringen Verteidigungsbereitschaft des kleinen Volkes in seinöm großen Land.

Als daher Mitte September der „Strong Express“ mit rund 300 Schiffen, 700 Flugzeugen und 64.000 Soldaten gen Norden dampfte, galt es gewiß nicht nur, den im Eismeer militärisch expandierenden Sowjets die Existenz der NATO in Erinnerung zu rufen, sondern genauso die zu rötlichem Neutralismus tendierenden Skandinavier ostentativ wieder unter den Schutz des Bündnisses zu stellen. Gegen Monatsende kehrte die See- und Luftarmada zurück: zwar vollzählig, aber schwer geschlagen: Norwegens Bevölkerung hatte mit klarer Mehrheit den Beitritt zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft abgelehnt.

Während im Westen noch vornehmlich die ökonomischen Folgen des Referendums erörtert wurden, sprach Moskau bereits von einem politischen Sieg. Kos-sygins Verheißung vom Vorjahr, ohne die Einmischung Dritter würde ganz Nordeuropa sich in eine „Zone des Friedens“ verwandeln: diese Einladung zum Isolationismus ist zumindest in Norwegen auf fruchtbaren Boden gefallen. Denn wenn auch die Masse der Neinsager aus der Bauernschaft und der Fischerei kam, so waren es doch politisch engagierte und nicht bloß wirtschaftlich interessierte Menschen gewesen, die jenen Chor der Neinsager auf die antieuropäische und eo ipso prosowjetische Tonlage eingestimmt hatten. Die „Prawda“ machte daher ihrem Namen alle Ehre, als sie den Wahlausgang in Norwegen weniger unter ökonomischen als vielmehr unter militärischen Aspekten kommentierte: als einen Ausdruck der Angst vor einer „militärischen Integration“ in einem politisch geeinten Europa.

Die aus militärischer Drohung, politischer Unterwanderung, ideologischer Verünsicherung und wirtschaftlichen Avancen kombinierte indirekte Strategie der Russen hat jedenfalls einen spektakulären Sieg errungen, an dem auch das Ja der dänischen Wählermehrheit nichts mehr ändern konnte. Nach dieser blamablen Offenlegung der Volksmeinung bietet Skandinavien sich jetzt erst recht als ein Kriegsschauplatz an, der den roten Imperialisten billige Erfolge verheißt — Erfolge, die obendrein weniger problematisch sein dürften als etwaige Erfolge bei den unberechenbaren Völkern an östlichem Mittelmeer und Adria.

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