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Krisenpunkt „Nordkalotten“

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Mit einer Eindringlichkeit, die auch den blauäugigsten Optimisten in seiner Überzeugung wankend machen könnte, mehren sich die Zeichen dafür, daß der hohe Norden Europas und die ihn umgebenden Meeresgebiete zu einem strategischen Brennpunkt erster Klasse geworden sind. Was die Großmächte wirklich im Auge haben, weiß man nicht. Möglicherweise wissen es nicht einmal die verantwortlichen Staatsmänner. Aber was sie tun, hat einen der einmal ruhigsten Teile der Welt in den Mittelpunkt des Interesses der Strategen gerückt.

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Mit einer Eindringlichkeit, die auch den blauäugigsten Optimisten in seiner Überzeugung wankend machen könnte, mehren sich die Zeichen dafür, daß der hohe Norden Europas und die ihn umgebenden Meeresgebiete zu einem strategischen Brennpunkt erster Klasse geworden sind. Was die Großmächte wirklich im Auge haben, weiß man nicht. Möglicherweise wissen es nicht einmal die verantwortlichen Staatsmänner. Aber was sie tun, hat einen der einmal ruhigsten Teile der Welt in den Mittelpunkt des Interesses der Strategen gerückt.

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Es sind bei weitem nicht nur die Warnungen, die von der letzten NATO-Versammlung in Oslo in Richtung Osten ausgesandt worden sind, die da beunruhigend wirken. Vor einigen Tagen hat das Internationale Friedensforschungsinstitut in Stockholm, SIPRI, in seinem Jahrbuch „World Armaments and Disarmament“ auf 490 Buchseiten nachgewiesen, welch erschreckenden Umfang die Rüstungen der großen Militärblöcke und picht zuletzt auch die der Staaten des Nahen Ostens bereits angenommen haben. Kurz vorher hat das Institut für Strategische Studien in London bei der Betrachtung des Verhältnisses der Sowjetunion zu den Westmäch-teh in seinem Jahresbericht darauf hinweisen müssen, daß die beiden führenden Militärmächte der Welt in ihren Auffassungen über den Begriff der Entspannung sich immer weiter voneinander entfernen und ein totales Fiasko aller Entspannungsbemühungen durchaus im Bereich des Möglichen liegt, mit allen sich daraus ergebenden katastrophalen Folgen. Von Peking kommt die verbürgte Nachricht, daß während des Besuches des britischen Außenministers der chinesische Außenminister Chiao Kuan-hua seine Überzeugung von der Unausweichlichkeit eines militärischen Zusammenstoßes der Sowjetunion mit dem Westen ausgedrückt hat.

Konzentriert man sich auf die Entwicklung im nordwestlichsten Teil der euro-asiatischen Landmasse, dann wird unschwer erkennbar, daß in allen davon berührten Ländern die Unruhe zugenommen hat und die militärischen Abwehrmaßnahmen verstärkt worden sind. Auch der Ton der aus Moskau kom-

menden Erklärungen ist unverkennbar schärfer geworden. Während in den ersten Monaten nach dem Abschluß der Europäischen Sicherheitskonferenz in Helsinki in allen sowjetischen Verlautbarungen ein ausgesprochener Optimismus zu er-

kennen war, ist nun bei den Russen von neuem das aggressive Mißtrauen erwacht. Noch im Herbst des Vorjahres betonte man ein ums andere Mal die Fortschritte in Richtung auf eine wirkliche Entspannung, die Helsinki mit sich gebracht habe, nun aber ist eine deutlich erkennbare Veränderung eingetreten.

Die im Westen erhobenen Vorwürfe gegen eine verstärkte sowjetische Aufrüstung hinwiederum zielen, klar ausgesprochen, auf die Entwicklung in den Randgebieten des nördlichen Eismeeres. Vor allem in Finnland ist man sich dessen bewußt und nicht wenig darüber beunruhigt. In Finnland weist man

darauf hin, daß die Sowjetunion mit großer Sorge die Aktivität von NATO-Einheiten im nördlichen Polargebiet beobachten müsse, da der schmale Meeresstreifen zwischen Nord-Norwegen und dem ewigen Eis der einzige Ausfahrtweg der russischen Flotte von der Kola-Halbinsel in den Nordatlantik sei. Die Militärleitung Nord der NATO mußte allerdings darauf gefaßt sein, daß auf eine der regelmäßig in Nord-Norwegen stattfindenden großen NATO-Manöver einmal eine andere sowjetische Reaktion als nur eine solche in Zeitschriften kommen werde. Als diese militärische Gegendemonstration dann mit allen zur Verfügung stehenden militärischen Mitteln und einer Heftigkeit

erfolgte, die alle Beobachter mit Bestürzung erfüllfe, und diese Manöver bis hart an die norwegische Grenze herangetragen wurden, erlebte man im NATO-Führungsquartier bange Minuten. Wo würden die sowjetischen Streitkräfte stehenbleiben?

Die Norweger legen zwar Wert darauf, NATO-Streitkräfte vom Gebiet östlich des Nordkaps fernzuhalten, doch NATO-Beobachter gibt es überall, und im Barentsmeer stehen westliche und sowjetische Kriegsfahrzeuge mitunter buchstäblich Bug gegen Bug! Zu jeder Stunde befahren Hunderte von Kriegsschiffen die Meeresgebiete westlich und nördlich von Nor-

wegen. Die meisten sind mit Kernwaffen versehen, die ausreichen würden, um den Gegner mehrere Male zu vernichten.

In den sogenannten Finnmarken sind gerade soviel norwegische Truppen konzentriert, als nach norwegischer Auffassung ausreichen dürfte, um einen sowjetischen Durchbruch bis zum Eintreffen der Alliierten aufzuhalten. Was aber ge-

schieht, wenn die Russen über Finnland und Nordschweden kommen? Was geschieht, wenn große Seestreitkräfte längs der norwegischen Küste nach dem Süden durchstoßen? In Finnland, Norwegen und Schweden werden die Vorsichtsmaßnahmen verstärkt, weit über das bisher übliche Ausmaß hinaus. Der „ruhige Winkel Europas“ ist zu einem Brennpunkt der Strategie geworden.

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