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Moskauer „Kanonendiplomatie” gegenüber Oslo und der NATO

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Mindestens neun russische und ein ostdeutsches Schiff haben in den letzten vier Wochen unbefugt norwegische Gewässer befahren. Alle wurden sie hoch oben im Norden gesichtet, vor der Küste Finnmarks. Bisher hat Norwegen auf die Grenzverletzungen sehr zurückhaltend reagiert. Doch mm glaubt das Außenministerium, daß es Zeit für schärfere Reaktionen sei. Der sowjetische Botschafter, den Außenminister Knud Frydenlund zu sich zitiert hat, konnte keine ausreichenden Erklärungen für die Präsenz sowjetischer Schiffe innerhalb der norwegischen Grenzen geben.

Die Besatzungen der Schiffe selbst gaben Maschinenschäden oder Schlechtwetter als Grund an, als sie per Funk von der norwegischen Küstenwacht zum sofortigen Verlassen der norwegischen Gewässer aufgerufen wurden. Doch zehn derartige Vorfälle innerhalb eines Monats sind zu viel, um an Zufälle glauben zu lassen. Die meisten der Sowjetboote verließen die Vier-Meüen-Küstenzone, ehe die Schiffe der Küstenwacht eintrafen. Eines der russischen Schiffe wurde von Marinebooten aufgebracht.

In Norwegen glaubt inzwischen niemand mehr an die Erklärung von Maschinenschaden und Schlechtwetter. Denn es gab in diesen vier Wochen mehr offiziell festgestellte Grenzverletzungen als bisher in all den Jahren seit dem Ende des Krieges zusammen. Nur Verteidigungsminister Rolf Hansen zeigt sich, um die Form zu wahren, noch zurückhaltend. Bevor man die wahren Motive nicht kenne, könne man nicht ausschließen, daß es sich doch um Zufälle gehandelt habe. Aber auch er gab zu, daß die Häufung der „Zufälle” eher nach bewußter Provokation aussieht.

Was aber wollen die Sowjets in den nordnorwegischen Gewässern? Darüber gehen die Ansichten der Beobachter in Oslo und den anderen skandinavischen Hauptstädten weit auseinander. Norwegische Fischerboote wollen beobachtet haben, daß die Besatzung der Schiffe Kisten und Kabel ins Meer versenkte. Es ist allgemein bekannt, daß sowohl die Sowjetunion wie auch die NATO im europäischen Nordmeer ausgedehnte Unterwas- ser-Abhörtätigkeit und Spionage betreiben. Das Barentsmeer, in dem die Seegrenzen Norwegens und der UdSSR aufeinander stoßen, ist meeresstrategisch eines der wichtigsten Gebiete Europas. Nach neuesten Angaben sollen die Sowjetunion 50 und die NATO 17 atomwaffenbestückte U-Boote in der Nordsee stationiert haben. Mit ihrer Reichweite von 1300 bis 1600 Seemeilen können die Atomraketen direkt aus dem Barentsmeer gegen Ziele in den USA abgeschossen werden

Diese Rüstungsaktivität in der Nordsee führt aber zu besonders genauer gegenseitiger Überwachung. Nach einem nie bestätigten Bericht der „New York Times” soll sich eine der Unterwasser-Abhörstationender NATO just in Nordnorwegen befinden. Und hier setzen die Vermutungen der Beobachter ein, die überlegen, welchen Zwecken die sowjetischen Schiffe an der norwegischen Küste dienen. Sie könnten den Auftrag haben, das Uberwachungssystem der NATO zu stören, und zwar eben jetzt, da die NATO eines ihrer Seemanöver in Norwegen abhält.

Eine andere Vermutung läuft darauf hinaus, daß die Sowjets selbst dabei waren, in Norwegens Gewässern eine neue Abhöranlage zu installieren oder eine alte zu reparieren. Gegen diese Annahme spricht freüich, daß Spionageanlagen kaum so auffällig installiert würden, daß es von weit enfernt gelegenen Fischerbooten aus beobachtet werden kann. Die ebenfalls aufgetauchte Theorie, die Sowjets seien auf der Suche nach einem abgestürzten Spionage-Satelliten, den sie um keinen Preis den NATO-Truppen in die Hände fallen lassen wollten, klingt wohl zu abenteuerlich, um wahr sein zu können.

Stimmt eine der genannten Theorien, dann hatten die sowjetischen Schiffe innerhalb norwegischen Hoheitsgebietes eine Funktion zu erfül len. Es ist jedoch auch möglich, daß die Grenzverletzungen nur eine bewußte Provokation von seiten der UdSSR darstellen, um gegenüber Norwegen oder gegenüber den in Norwegen versammelten NATO-Truppen Stärke zu demonstrieren. Genau das ist es auch, was General Hamre, Norwegens oberster Müitärchef, mit sowjetischer „Kanonendiplomatie” umschreibt.

Im Voijahr hat die UdSSR NATO- Manöver in Nordnorwegen zum Anlaß genommen, die Beziehungen mit Norwegen ernsthaft zu verschlechtern. Es war das taktische Vorspiel über die Verhandlungen über die sogenannte „Grauzone” im Barentsmeer, jenes Gebiet, das sowohl von Norwegem wie von Sowjets als Eigengewässer beansprucht wird. Das vorläufige Abkommen, das die beiden Länder im März unterschrieben haben, begünstigt die Sowjetunion so kraß, daß die bürgerlichen Oppositionsparteien erstmals mit der viele Jahre bestandenen Tradition brachen und in einer außenpolitischen .Entscheidung gegen die Regierung stimmten. Demnächst sollen die Verhandlungen wieder aufgenommen werden, die aus dem vorläufigen ein endgültiges Abkommen machen sollen. Das mag für die UdSSR Grund genug sein, mit Provokationen zu beginnen.

Die Stärkedemonstration kann aber auch überregional gemeint sein. Nordeuropa ist für die Sowjetunion ein wichtiges Glied in ihrem Verteidigungskonzept, in Murmansk haben sie ihre Streitkräfte immer mehr verstärkt. Schweden hat vor nicht langer Zeit über erhöhte sowjetische U- Boot-Aktivität vor seinen Küsten geklagt. Auf Island hofft die Sowjetunion Fuß zu fassen und die Amerikaner aus Keflavik zu verdrängen. Bisher vergeblich! Norwegen, das an gutnachbarlichen Beziehungen zur UdSSR interessiert ist, wird es nicht leicht haben, den richtigen Ton in der Antwort auf die sowjetischen Provokationen zu finden.

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