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Der weiche Unterleib Europas

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Was vor wenigen Jahren nur einige Politiker hinter dem verengenden Rand des Tagesgeschehens heraufkommen sahen, wird nun Wirklichkeit: Der europäische Süden erweist sich als die Achillesferse des Kontinents. Seit 1955 sind Ansatz und Zielrichtung der sowjetischen Mittelmeerpolitik für diejenigen zu erkennen gewesen, die versucht haben, die künftigen Dimensionen der Weltpolitik zu erkunden und die sich Rechenschaft darüber ablegten, daß ihr gegenwärtiges Tun oder Unterlässen langfristige Wirkungen haben könnten, nicht nur in Mitteleuropa, sondern auch an den beiden Flanken des Kontinents, im Norden und im Süden.

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Was vor wenigen Jahren nur einige Politiker hinter dem verengenden Rand des Tagesgeschehens heraufkommen sahen, wird nun Wirklichkeit: Der europäische Süden erweist sich als die Achillesferse des Kontinents. Seit 1955 sind Ansatz und Zielrichtung der sowjetischen Mittelmeerpolitik für diejenigen zu erkennen gewesen, die versucht haben, die künftigen Dimensionen der Weltpolitik zu erkunden und die sich Rechenschaft darüber ablegten, daß ihr gegenwärtiges Tun oder Unterlässen langfristige Wirkungen haben könnten, nicht nur in Mitteleuropa, sondern auch an den beiden Flanken des Kontinents, im Norden und im Süden.

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Die Sowjetunion stellte sich den Ländern des Nahen Ostens keineswegs als europäische Macht dar. Von Taschkent und Samarkand aus warb sie um die Gunst der „arabischen Brüder“ und bot sich an als starker Bundesgenosse. Die Aus-rüstungs- und Waffenhilfe für Ägypten, die im Nahostkrieg von 1956 und auch im Jemen-Krieg sichtbar wurde, die wachsende polemische Auseinandersetzung mit Israel, die offene Parteinahme für Nasser bei dessen Okkupation des Suez-Kanals und schließlich die systematische Beeinflussung des Irak und Syriens, vor allem der dortigen radikalen Elemente in der führenden Baath-Partei — dies alles sind wichtige Merkmale dieser expansiven, konsequent und zugleich höchst subtil vorangetriebenen sowjetischen Mittelmeerpolitik.

Hinzu kam der Aufbau einer Kriegsflotte, die in der Lage war, ihre dritte Eskadra, ausgestattet mit modernsten Raketenzerstörern und -kreuzern, mit Hubschrauberträgern und Landungsschiffen (z. B. vom Typ Albatros), als Gegenkraft zw amerikanischen Sechsten Flotte ins Mittelmeer zu entsenden.

Diese sowjetischen Aktivitäten, die zu Ende der fünfziger Jahre entwickelt worden sind, als Chruschtschow in den Vereinten Nationen die vollständige Abrüstung lautstark forderte und in den doppeldeutigen Ruf ausbrach: „Werft alle Waffen ins Meer! Schickt alle Soldaten nach Hause“, sind ergänzt worden durch permanente Unterwühlung der freiheitlichen Ordnung in den europäischen Ländern. Dafür benutzte Moskau seine diplomatischen Vertretungen und bediente sich direkt der kommunistischen Internationale. Bei zahllosen Treffen der Parteiführer wurden die Aktionen vorbereitet und formuliert. Die italienische und die französische KP sind für die Ziele Moskaus ebenso tätig geworden. Hinzu kommen zahllose Helfer im Lager eines Bürgertums, das glaubt, zugunsten des „Friedens“ auch mit jenen kommunistischen Kräften in westlichen Ländern paktieren zu sollen, die in Wirklichkeit die einzigen friedensgefährdenden Elemente sind.

Natürlich sind die Geschehnisse, die in den letzten 20 Jahren die politischen Strukturen der Mittelmeerländer tiefgreifend verändert haben, nicht nur ein Ergebnis der sowjetischen Politik. Da gab es etwa die Sprengwirkung, die durch nationalistisches Denken und antikolo-nialistische Strömungen erzeugt wurde. Oft gespeist von den sogenannten nationalen Befreiungsbewegungen, vor allem in Algerien und Ägypten, haben sich panarabische Emotionen und Ideen in rascher Folge herausgebildet. Kleine radikale Gruppen, die darauf bedacht waren, Haß gegen Europa, seinen Wohlstand und seine Zivilisation wirksam werden zu lassen, begannen, ihre junge Führungsgamitur nach Prag oder Moskau zu schicken. Die dortige sogenannte „Lumumba-Universität für Völkerfreundschaft“ wurde so zur Ausbildungsstätte der revolutionären Kader aus vielen Ländern der Dritten Welt.

Heute blickt Europa erschrocken auf seinen Süden. Die Touristenströme werden umgelenkt, da zum Beispiel in Portugal der brodelnde Kessel politischer Auseinandersetzungen und die Gefahr einer kommunistischen Machtübernahme abschrecken. Welche Länder man auch immer nennt, ob Türkei oder Zypern, Griechenland oder Italien, Spanien oder Portugal, überall ist zugleich Unsicherheit, Umsturz und Ungewißheit mitgenannt. In der Südostflanke der NATO stehen sich immer noch zwei verbündete Staaten feindselig gegenüber. Zwar hat das Gespräch zwischen ihren Staatsmännern Karamanlis und Demirel nach der letzten NATO-Konferenz in Brüssel Hoffnungen auf Verständigung über Ägäisöl und Zypern geweckt.

Aber die Bandbreite der Chancen ist trotz guten Willens nur schmal. Während beide Nationen ihre Beteiligung am atlantischen Bündnis reduzieren und mit den USA hadern, schwächen sie die westliche Position in jenem Winkel der Welt, wo Orient und Okzident aufeinandertreffen, arabisches und jüdisches, amerikanisches und sowjetisches Interesse miteinander im Widerstreit stehen.

Die amerikanische Mittelmeerpolitik ist im letzten Jahr von vielen Ungeschicklichkeiten und Fehlern begleitet gewesen, so daß manche Versuche, eine Einbuße an Ansehen durch neue Aktionen auszugleichen, zu neuen Fehlern führten. Kissinger hat nun, ungeduldig gegenüber den europäischen Händeln und ärgerlich über die obligaten Beschimpfungen Amerikas, mit barschen Worten die maulenden Türken und Griechen zurechtgewiesen: Sie sollten nicht glauben, daß es für die Vereinigten Staaten eine „Gnade“ sei, ihr Verbündeter zu sein.

Die jüngsten Regionalwahlen in Italien haben den befürchteten Ruck nach der kommunistischen Linken hin gebracht und sind wohl auch als eine deftige Quittung gegenüber einer seit Jahren auf bestimmten Geleisen festgefahrenen Politik zu verstehen. Im „historischen Kömpromiß“, der von KP-Chef Berlin-guer gefordert wird, soll die Allianz auf Zeit zwischen Kommunisten und Christlichen Demokraten anvisiert werden. „Historisch“ wird solcher Kompromiß wohl aus zwei Gründen genannt: Er soll von großer geschichtlicher und beispielhafter Bedeutung sein, aber eben nur vorübergehend wirken, bis der Partito Comunista sich auf den Schultern der Democrazia Cristiana an die Macht gebracht hat.

Auf der iberischen Halbinsel zeigen die kommunistischen Gruppen in und außerhalb der Streitkräfte, in den Massenmedien und auf den Straßen, was tatsächlich unter Entspannung, Sicherheit und Zusammenarbeit verstanden wird. Während in Genf die Werbetrommeln für das von der Sowjetunion mit Vorbedacht inszenierte gigantische Propagandaunternehmen KSZE gerührt werden, zeigen die gleichen Leute in Portugal und an anderen Stellen, wie in Berlin, was sie unter Entspannung und friedlicher Koexistenz verstehen. So organisieren sie gegenwärtig für die illegale kommunistische Partei Spaniens unter Carillo, dem in Paris lebenden und von Moskau aus über Ost-Berlin und die römische Parteizentrale finanzierten Führer, eine Kaderorganisation.

Der europäische Süden ist der weiche, empfindliche Unterleib des Kontinents geworden. In der Epoche der Entspannung haben die kommunistischen Kräfte ihre Positionen erheblich verbessert. Einer ihrer hartgesottensten Führer, der erste stellvertretende Generalstabschef Paschuk, schrieb vor einigen Tagen ganz offen: „In allen Ecken des Erdballs hört man heute den kräftigen Schritt der Sowjetmacht.“

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