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Europa und die Einheit

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Man glaubt heute, zumindest in Österreich — in anderen Ländern zeigen die Neuauflagen der „Protokolle der Weisen von Zion", so in arabischen Ländern, aber auch in Südamerika eine andere Situation an — nicht mehr an diese russische Erfindung, dieses Pamphlet, das eine .jüdische Verschwörung" zur Machtübernahme den erschrockenen Bürgern, und Kleinbürgern an die Wand' ihrer Anest malte.

Ein anderer „Glaube" — wenn man diese Stimmung als „Glauben4', als politischen Glauben, für einen Augenblick so ansprechen darf — wird jedoch heute auch hierzulande von nicht wenigen Menschen geglaubt: der Glaube,

daß hier, in Europa zunächst, eine Tendenzwende—das Wort ist heute schon verbraucht, die Sache, um die es hier geht, ist es nicht — sich vollzieht.

Ein Wahlsieg einer „konservativen", ein Wahlsieg einer „sozialistischen" Partei in diesem, in jenem Lande wird als Zeichen, ja als Dokumentation einer Tendenzwende angesehen: wobei „ein sozialistisches Europa" auf der einen Seite, ein neokonservatives, ja ein „christliches Europa" auf der anderen Seite ersehen werden: als die gestaltende politische Macht von morgen, ja von heute.

Nun: Es gibt kein christliches Europa, es gibt kein sozialistisches Europa. Ja, es gibt ein „kommunistisches" Europa: wie es dort aussieht, unter dem Stahldach der Sowjetunion, in Polen, in der Tschechoslowakei vorzüglich, zeigt, daß von einem kommunistischen Europa wohl im Sinne einer militärisch-polizeilichen Uber-herrschung, nicht aber als einer inneren überzeugungsstarken politischen Einheit die Rede sein kann.

Es ist Zeit, Maßstäbe zu finden: Es gab ein katholisches Europa, genauer, ein gegenreformatori-sches Europa, in dem die Achse Madrid-Rom-München-Wien-Prag einen Weltstil schuf, den Barock, der von der Wiege bis zum Grabe Leben formte. Es gab ein evangelisches Europa, das sowohl in seiner lutherischen wie in seiner calvinistischen Hemisphäre Menschen formte, auch hier von der Wiege bis zum Grabe.

Will jemand im Ernst behaupten, daß es ein „sozialistisches Europa", daß es ein „christliches Europa" gibt, das Menschen formt?

Was haben in Lebensstil, Mentalität, ja in politischen Anschauungen schwedische Sozialisten, englische, deutsche, französische, österreichische Sozialisten existentiell gemein? Die spektakulären Treffen prominenter Sozialistenführer aus Schweden, der Bundesrepublik Deutschland und Österreich sowie der Sozialistische Internationale(n) können

gewisse Zusammenarbeitsformen ausdebattieren, jedoch in keiner Weise ein Europa ihrer Prägung - die es so gar nicht gibt

— schaffen. i

Der Wahlsieg der Margaret Thatcher, sodann der spektakuläre Wahlsieg Reagans führten zu triumphalen Ausbrüchen „konservativer", „christlichsozialer" Politiker und auch nicht parteigebundener Menschen, die hier, endlich, endlich die lange bange erwartete Tendenzwende, das Brechen des „sozialistischen Vormarsches" zur „Machtübernahme" in Europa ersahen.

Seither ist viel Schmutzwasser von der grau-grauen Themse befördert worden, der Glanz Reagans ist gerade bei sehr „konservativen" Menschen, gerade auch in Österreich, verblichen. Konnte jemand im Ernst glauben, wie verkündet wurde, daß dies eine „Wende für Europa", für Westeuropa bedeuten würde? Die europäischen Christlichsozialen sind selbst, was in Österreich gerne schamhaft überschwiegen wird, in eine „linke" und eine „rechte" Fraktion zerteilt, wobei pikanterweise die linken europäischen Christdemokraten ihre Zentrale in Rom haben...

Keine Angst also vor einem „sozialistischen Europa", keine Angst also vor einem „christlichen Europa"! Die europäischen Christen sind zerstritten wie eh und je.

Daß spanische und französische, irische und englische, wallonische und flämische Katholiken, um hier nur einige Gegensatzpaare zu nennen, keine europäische Einheit büden, so wenig wie deutsch-österreichische und slowenische und kroatische Katholiken, trotz redlicher Bemühungen, sind harte Tatsachen.

Sozialistische Einheit? Ejn sozialistisches Europa? Italienische, französische, bundesrepublikanisch-deutsche Sozialisten sind zerstritten wie eh und je seit den Tagen des Karl Marx, der eine Partei für sich allein war, seit den Tagen seines Antipoden Lassalle

— wobei hier und dort erbittert auch sozialistische Parteien in ei-nem_Lande miteinander schwere Kämpfe austragen.

Tendenzwende ist nirgends in Sicht: kein sozialistisches, kein christliches Europa also, wohl aber eine Fülle von Parteien und einige im Vordergrund, im sozialistischen Raum stehende Politiker, die Einheit präsentieren, die so nicht ist: Das ist europäische, ist westeuropäische Wirklichkeit!

Dieser Aspekt will nicht Schwarzmalerei, will nicht Rotmalerei sein — nur um etwas mehr Ruhe und Besonnenheit, Verzicht auf Wunschträume, sei gebeten.

Was anzustreben wäre, ist dies: eine Föderation, vielfarbig, nuanciert, doch auch handfest, die in einigen Lebens-, also Uberlebensfragen, Ubereinstimmung erzielt: zum Beispiel für ein atomwaffenfreies Europa von morgen.

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