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Hegel mit Schlagseite

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Kaum ein Denker der Neuzeit hat eine derartige nachhaltige, bis zum heutigen Tag anhaltende politische Wirkung ausgeübt, wie Hegel. Keiner wird aber auch von so unterschiedlichen, ja gegensätzlichen politischen Systemen für sich in Anspruch genommen. Tatsache ist, daß die Auseinandersetzung um Hegels Erbe gleichzeitig auch ein Kampf um das Erbe der Aufklärung und der klassischen deutschen Philosophie ist. Wenn der 12. internationale Hegel-Kongreß in Salzburg über das Thema „Philosophie der Praxis - Praxis der Philosophie“ etwas bewiesen hat, so dies: Obwohl dieser Kampf vorwiegend mit geistigen, philosophischen Waffen ausgetragen wird, so ist er nichtsdestoweniger zutiefst politischer Natur. „Philosophie ist eine öffentliche Praxis ideologiepolitischer Erbschaftskonkurrenzen“ sagte der Züricher Philosoph Hermann Lübbe in seinem Eröfjnungsreferat. Die Frage, wer welche Philosophiegeschichte als einen Teil seiner eigenen Geschichte in Anspruch zu nehmen legitimiert ist, gehöre deswegen generell in den Kontext ideologie-politischer Selbstbehauptung.

Leider fehlte es bei den Rednern des bürgerlich-westlichen Lagers, abgesehen von wenigen rühmlichen Ausnahmen, an solchem ideologiepolitischen Selbstbehauptungswillen. Wie wäre es sonst möglich gewesen, daß Usurpationsversuche des Marxismus-Leninismus, die fortschrittlichsten Traditionen der europäischen Geschichte fiir sich allein in*Anspruch zu nehmen, so gut wie unwidersprochen blieben? Wo die internationale Hegel-Gesellschaft politisch zu orten ist, ist inzwischen wohl jedermann klar geworden. Umso notwendiger wäre es gewesen, die überlegene Position des pluralistisch-demokratischen Verfassungsstaates zur Darstellung zu bringen.

Doch weit davon entfernt. Während kommunistische Jungintellektuelle endlos gegen den Radikalen- erlaß und die Berufsverbote in der BRD polemisieren konnten, wurde die Menschenrechtsbewegung in den Oststaaten vom Piedestal der Hegelschen Philosophie herab als verblasener „Kosmopolitismus“ abqualifiziert und das Verbot jeglicher Interventionen zugunsten verfolgter Menschen theoretisch gerechtfertigt. In peinlicher Einhaltung der von der anderen Seite festgelegten Spielregeln nahm man Worte wie „Helsinki“ oder „Charta 77“ erst gar nicht in den Mund. Handelte es sich hier um politische Argumentationsschwäche, die aus dem abnehmenden Selbstbehauptungswillen der freiheitlich-pluralistischen Ordnung resultiert? Oder einfach um einen eklatanten Mangel an Mut und Zivilcourage? Eines steht jedenfalls fest: Wer an einer so offensichtlichen Profilschwäche leidet, sollte lieber nicht in die ideologiepolitischen Auseinandersetzungen eintreten.

Hier ist es, wie Hermann Lübbe betonte, genau umgekehrt als in der Physik: Nicht wenn die Atmosphäre hitzig wird, schmelzen die Profile, sondern wo diese schmelzen, wird die Atmosphäre hitzig.

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