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Zwischen Rollenspiel und Toleranz

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Mit leichter Verlegenheit in der Stimme fragte mich die Garderobiere in der Salzburger Residenz, einem Ort, dem sonst Problematisches fremd ist: was denn das sei, ein „Hegel-Kongreß”. Sie ging sichtlich davon aus, daß es sich um einen festen Begriff handeln müsse, um etwas Dinghaftes - vielleicht um etwas Ähnliches wie die gleichzeitig in Salzburg stattfindende „Anti-Atomkonferenz”.

Man mag die Frage (die streng wissenschaftliche Analyse einmal beiseitegelassen) zusammensehen mit der Verdinglichung des Bewußtseins; nur über Dinge sei, hat sich im Zeitalter der facts, der Übermacht von Technik und materialisierten Beziehungen festgesetzt, sinnvoll zu reden - wie sehr müsse das erst gelten, wenn mehr als dreihundert Teilnehmer aus Europa und Ubersee, aus Ländern mit unterschiedlichen Gesellschaftsordnungen Zusammenkommen, um sich in knapp drei Tagen weit über hundert Vorträge (verteilt auf jeweils drei bis vier Parallel-Sitzungen) anzuhören…

Diese Verdinglichung freilich, das Denken in Standards, schärfer gesagt: in vorentschiedenen Feindbildern, prägte (und nun wird es etwas ernster) zeitweise auch das Klima des XII. Internationalen Hegel-Kongresses selber. Man schlug den Sack, wenn der Esel gemeint war, griff dialektisches Denken an und meinte das Klassenbewußtsein, man sagte (der Vorwurf ist nicht neu, aber zutreffend) Hegel und meinte Marx. Man spielte also nicht mit offenen Karten - was nicht heißen soll, daß bewußt gelogen wurde, sondern daß man seine persönlichen Erfahrungen und Empfindungen nur selten aussprach; und wenn, dann mit offener Aggression.

Muß noch hinzugefügt werden, daß das „Rollenspiel” von beiden Seiten betrieben wurde? Im Kern ging es um den Gegensatz von Dialektik und Kritischem Rationalismus; wobei letztgenannter, die von Sir Karl Popper vertretene Theorie (er selber war nicht anwesend) deutlich am Pranger stand, kaum Fürsprecher fand (und wenn, dann nicht die besten), schließlich zum „toten Hund” erklärt wurde. Das Zentralthema lautete: „Philosophie der Praxis - Praxis der Philosophie”; gemeint war natürlich die Hegelsche. Als bekannt wurde, daß fünf West-Berliner Kongreßteilnehmer als vermeintliche Terroristen neun Stunden an der Grenze zur Bundesrepublik festgehalten waren, geriet die Diskussion sehr bald auf das Geleis emotionell besetzter, arrogant gekonterter Praxis ohne Philosophie.

Ein Problem solcher Kongresse ist, daß Gegensätze einerseits für scheinhaft erklärt werden oder zumindest miteinander vermittelbar, während sie offen ausbrechen, sobald die Interessenlage erkennbar wird. Mit „falschem Bewußtsein” ist da leicht zu argumentieren … Eine Gemeinsamkeit von Logik und Dialektik ist beispielsweise, daß es in beidem um das Erkennen geht, und zwar in der und durch die Sprache. Eine Dialektik ohne Logik wäre sinnlos, eine Logik um ihrer selbst wülen wäre es genauso. Kritische Rationalisten, die differenzieren können, benutzen die Logik denn auch zweckbestimmt oder funktional, nämlich als Werkzeug der Kritik. Theorien seien zwar rational nicht zu rechtfertigen, wohl aber rational zu kritisieren (meint Popper); sie müssen sogar kritisiert („falsifiziert”) werden. Nur auf diese Weise seien bessere von schlechteren zu unterscheiden. Derart kann sich nun freilich jede Richtung „kritisch” geben und ihr Scheibchen abschneiden - und so geschieht es ja auch. Eben das warf Emst Topitsch (Graz) den Dialektikern in der Hegel- Nachfolge vor: daß ihr Instrument zur Propaganda für jedes beliebige „Recht oder Unrecht” tauge - war das kritisch?

Zur Theorie gehört, soll sie nicht spielerisch-unverbindliches Gebilde bleiben, die Praxis; zur Dialektik gehören mithin auch Inhalte - und den marxistischen Theoretikern auf dem Salzburger Kongreß ist darin recht zu geben, daß die Kritik an Dialektik meist bei den Formen ansetzt und von den „verdächtigen” Inhalten abstrahiert. Diese Kritik gibt sich dadurch nur den Anschein der Wertfreiheit und unwiderleglichen Objektivität; in Wahrheit ist sie ideologiebesetzt. Man schied dennoch in Freundlichkeit voneinander. Wilhelm Raimund Beyer, Gründer und 1. Vorstand der Internationalen Hegel-Gesellschaft, beging am anderen Tag seinen 75. Geburtstag. Neu geboren wird auf jedem Hegel-Kongreß ein bißchen Toleranz, ein wenig Gesprächsbereitschaft. Bis zum nächsten Treffen…

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