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Revel oder Mitterrand?

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Zwei prominente französische Sozialisten schrieben Bücher. Es sind zwei durch mehr als nur Nuancen unterschiedene Stimmen dem Kommunismus gegenüber, doppelt von Interesse in der Ära des sogenannten Eurokommunismus und von höchster Aktualität angesichts der französischen Wahlen und etwaiger Volksfrontstrategie in einem entscheidenden Wahljahr. Jean Francois Revel, einer der führenden Köpfe der französischen Linken, nennt sein Werk „die totalitäre Versuchung“. Francois Mitterrand, der Parteivorsitzende der französischen Sozialisten, bemüht sich um die Trennung von „Spreu und Weizen“.

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Zwei prominente französische Sozialisten schrieben Bücher. Es sind zwei durch mehr als nur Nuancen unterschiedene Stimmen dem Kommunismus gegenüber, doppelt von Interesse in der Ära des sogenannten Eurokommunismus und von höchster Aktualität angesichts der französischen Wahlen und etwaiger Volksfrontstrategie in einem entscheidenden Wahljahr. Jean Francois Revel, einer der führenden Köpfe der französischen Linken, nennt sein Werk „die totalitäre Versuchung“. Francois Mitterrand, der Parteivorsitzende der französischen Sozialisten, bemüht sich um die Trennung von „Spreu und Weizen“.

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Revel ist ein engagierter Kommunismuskritiker, Mitterrand hingegen war zumindest zeitweise von der^ Hoffnung getragen, mit den Kommunisten Schulter an Schulter eher in die politische Macht einzurücken als in einer Koalition mit „bürgerlichen“ Parteien, und es wäre kaum in seinem Sinn, wenn das derzeitige Zerwürfnis mit den Kommunisten Marchais' - wider Erwarten - ein endgültiges sein sollte.

Die richtungweisenden Thesen Re-vels, dessen Publikation großen Widerhall gefunden hat: Der Mensch unterliegt der Versuchung, Herrschaft mit Gewalt auszuüben. In den westlichen Ländern ist diese „totalitäre Versuchung“ die Ursache der Anpassung an den Kommunismus; und in den „sozialistischen“ Ländern ist der Drang nach der ganzen Macht die Ursache der Diktatur. Der Kommunismus kann gar nicht anders: Seine Unfähigkeit, die Probleme der Gesellschaft zu lösen und die Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen, ist offenkundig.

Als Alternative hält Revel einen weltweiten Sozialismus (nur dann) für möglich, wenn dieser sowohl den Nationalstaat als auch den autoritären Kommunismus überwinden würde. Ob diese Perspektive aber Wirklichkeit wird, hängt seiner Meinung nach davon ab, ob die Sozialisten ihren eigenen Anspruch ernst nehmen - oder ihn durch Nachgiebigkeit gegenüber den Kommunisten für immer unrealisierbar machen. Entweder kämpfen die Sozialisten Westeuropas darum, die beiden Haupthindernisse der von ihnen erträumten sozialistischen Welt, die rivalisierenden Nationalstaaten und den Kommunismus, zu beseitigen, oder sfe werden durch ihre eigene Selbstverleugnung der Entstehung neuer totalitärer Staaten Vorschub leisten und damit ihren eigenen Untergang vorbereiten.

Es ist in der Tat für eine historische Bewegung nichts schwieriger, als sich gegenüber verwandten Gedankengängen abzugrenzen, die theoretisch auf eine gemeinsame Gesellschaftslehre und emotionell auf die gleiche Motivation zurückgehen. So hat heute der Sozialismus jedes Landes eine fließende Grenze nach links, die das innersozialistische Kräfteparallelogramm - ungeachtet der zahllosen aufrechten Nichtkommunisten! - politisch oft so unberechenbar erscheinen läßt. Hätte es dazu sogar in Osterreich - wo der Antikommunismus der sozialistischen Führung unbestritten ist -einer literarischen Bestätigung bedurft, Günther Nenning hat sie in seinem Buch „Realisten oder Verräter, über die Zukunft der Sozialdemokratie“ (München 1976) kürzlich geliefert.

Die Publikation Revels (sie geriet sofort auf die Bestsellerlisten) ist die Antithese zur Philosophie der sozialistisch-kommunistischen Volksfront in Frankreich. Der „Kommunismus mit menschlichem Antlitz“ ist für Revel eine Chimäre, objektiver Volksbetrug oder subjektiver Selbstbetrug: „Jede Allianz der Sozialisten mit den Kommunisten ist Selbstmord!“ Jean Francois Revel ist von einem tiefen Pessimismus, betreffend die politische Realisierbarkeit des Sozialismus, durchdrungen, was um so schwerer wiegt, als er von der Annahme ausgeht, daß sich die Welt in Richtung Sozialismus entwickelt.

„Spreu und Weizen“ von Francois Mitterrand ist kein direktes Pendant zu Revel, die Verbindung drängt sich aber nicht nur infolge der zeitlichen Nachbarschaft der beiden Publikationen, sondern auch im Zusammenhang mit der Problematik des lange Zeit angestrebten, wenn auch derzeit ungewissen Wahlbündnisses der französischen Linken auf.

Diese Tagebuchaufzeichnungen eines insbesondere historisch gebildeten Franzosen und bewußt aus dem kulturellen Reichtum seines Landes lebenden Intellektuellen haben die typischen Nachteile aller für die Veröffentlichung bestimmten persönlichen Aufzeichnungen dieser Art: Sie erwecken wiederholt den Eindruck, daß sich der Autor nicht immer so gibt, wie er ist, sondern so, wie er gerne sein möchte, alles aufmerksam beobachtend, Natur und Welt genießend, den politischen Partnern gegenüber tolerant, aber letzten Endes doch geistig überlegen. Wahrscheinlich ist das anders kaum möglich.

Immerhin gibt das Buch Einblick in das Innenleben eines Mannes, der in die Politik eingegriffen hat, nicht zuletzt auch mit dem Ziel, sich selbst zu verwirklichen, und der bemüht ist, seinem Leben einen Hauch von Poesie zu geben.

Für die unmittelbar bevorstehende Neugestaltung der politischen Szenerie Frankreichs gibt das Tagebuch, das von 1971 (allerdings mit häufigen Rückblendungen) bis in die Zeit nach den Präsidentschaftswahlen vom Mai 1974 reicht, doch einige Hinweise auf eine mögliche künftige Strategie seines Autors nach dem Wahlgang. Die derzeitige Ablehnung einer engeren Kooperation mit den Kommunisten könnte durchaus lediglich taktischer Natur sein, wenn man sieht, welche grundlegende Bedeutung der Begriff „die Linke“ für Mitterrand hat. So appelliert er wiederholt an die „Solidarität der Linken“, etwa angesichts der Vorgänge in Chile (19. März 1977) und bei der Erörterung einer von ihm als notwendig bezeichneten Steuerreform (27. März 1974). Die Kluft, die er mitten durch Frankreich hindurchgehen sieht und die dieses starke Solidari tätsgefühl mit den Kommunisten verständlich macht, zeigt eine Eintragung vom 6. April 1974, dem Todestag von Georges Pompidou. Obwohl dieser und der Autor - .jeder von ihnen in der vordersten Reihe ihres Lagers“ -zehn Jahre lang miteinander gekämpft und so viele Auseinandersetzungen durchgefochten haben, sei zwischen ihnen nie ein Wort der Entspannung, des Friedens oder auch nur der bloßen Höflichkeit gefallen oder ausgetauscht worden: „Das eine Frankreich kennt das andere nicht mehr.“ General de Gaulle hätte die Hälfte der Franzosen „in ihrer eigenen Heimat verbannt“. Auf den beiden Seiten des zerklüfteten Frankreich stehen in Mitterrands Sicht einander offenbar letzten Endes „die Linke“ und „die bürgerliche Welt“ gegenüber!

DIE TOTALITÄRE VERSUCHUNG. Von Jean Frangois Revel. Verlag Ullstein, FrankfurtlM. 1976, 302 Seiten, öS 229,50.

SPREU UND WEIZEN. Von Frangois Mitterrand, tuduv Verlagsgesellschaft m.b.H., München 1977, 320 Seiten, öS 191,-.

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