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Krise der modernen Gesellschaft

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Die „Furche“ erachtet es für ihre Pflicht, auf die besondere Note des folgenden Berichtes hinzuweisen. Seine ungeschminkte Nüchternheit legt beispielhaft Zeugnis ab für etwas Neues, Wesentliches: für die Tatsache, daß inneren und äußeren Widerständen zum Trotz Menschen sich im Heute finden: in der Diskussion, in der Aussprache — auf der Basis gegenseitiger Achtung vor. dem Recht und vor der Not des anderen.

Unter dem Titel „Die Krise der modernen Gesellschaft“ veranstaltete ein Arbeitskreis junger Akademiker in Graz einen Diskussionsabend, der, rege besucht, selbst ein präzises Spiegelbild dieser Krise ergab. Neben zahlreichen Intellektuellen — Hochschulprofessoren, Studenten, Lehrern, Erziehern — waren auch zahlreiche Jungarbeiter erschienen, wie überhaupt Interessenten aus den verschiedensten Berufszweigen und Milieuverhältnissen.

Die sehr temperamentvoll und lebhaft verlaufende Aussprache führte zu durchaus produktiven und beachtlichen Ergebnissen, die, zusammengefaßt, ungefähr auf folgendes hinausgehen:

Die Krise — eine Folge der Technik. Dieser Standpunkt wurde zumal vom intellektuellen Kreis vertreten und dahingehend formuliert, daß die Technik in Gestalt der Maschine das ihr eigene Gesetz auch den Menschen aufzwinge, und der Mechanisierungsprozeß auch das menschliche Innenleben ergriffen und in seiner Struktur entsprechend umgeformt habe.

Aus dieser Kernthese, die unleugbar Bestechendes für sich hat und doch, wie die späteren Ausführungen ergaben, am Wesentlichen vorbeigeht, weil sie die Verantwortung vom Menschen weg auf die Materie abwälzt, und in Verkennung des Moments der Persönlichkeit die Macht des menschlichen Willens und die Gestaltungskraft von Idee und Ideal unterschätzt, wenn nicht gar indirekt negiert, beinahe resultierend ergaben sich zwei weitere Deutungen;

Die Krise — eine Folge der (unzulänglichen) Güterverteilung, beziehungsweise die Krise — eine Folge der kapitalistischen Wirtschaftsordnung. Hier bedienten sich einige der Sprecher der bekannten marxistischen Argumentation und versuchten, darzulegen, daß die Krise die notwendige Reaktion der Gesellschaft auf das dem Kapitalismus innewohnende und ihn charakterisierende Ungleichheits- und (ökonomische) Herrschaftsverhältnis sei.

Eine andere Gruppe vertrat die Meinung, die Krise sei eine Folge der Degeneration. Wer Spengler, Chamberlain und „Mein Kampf“ gelesen hat, dem wird die hiebei aufgetauchte Terminologie nicht fremd sein. Wesentlich ist, daß hier einige, auch jüngere Vertreter, ihrer Überzeugung Ausdruck verliehen, daß die Krise eindeutig auf den Niedergang des Blutes zurückzuführen sei, auf den Mangel an Rassenhygiene, Rassenschutz und Rassenzucht. Die Blutvermischung sei schuld, daß die Menschen heute so ganz anders seien, die fortgesetzte Bastardisierung, die schon Römer und Griechen zugrunde gerichtet habe.

Eine andere Gruppe, meist ältere Erzieher, führte die Krise auf die sogenannte Aufklärung zurück. Man habe die Menschheit so restlos aufgeklärt, daß sie nicht mehr glaube und sich binden könne. Glaube und Bindung aber seien Voraussetzung zu Zusammenleben und menschlicher Kultur. Mit der Emanzipation des Denkens habe es begonnen, mit der Emanzipation des Trieb- lebens aufgehört. Der Mensch sei wieder Urmensch geworden, zügellos, hoffnungslos, denkbegabter Wilder. Dieser Standpunkt fand lebhafte Erörterung, namentlich die Frage des Zeitpunktes, den einige auf Kopernikus, andere auf Luther, andere auf die Französische Revolution, ein Sprecher auf den Faschismus bezogen.

Einige, vornehmlich jüngere Teilnehmer formulierten ihre Ansicht daraufhin dahingehend, daß die Krise Folge des Abfalls von Gott sei. Der Ersatz des Glaubens an den einen Gott durch Mythos und Rationalismus, die Vergiftung und Täuschung der Religiosität, beziehungsweise „Abzapfung" zu rein irdischen Zwecken, die Emanzipation der vitalen und damit Unterdrük- kung der religiösen Seite des Lebens innerhalb und außerhalb der Seele sei die eigentliche Ursache, daß die Krise existent, die Menschen unfruchtbar und unglücklich seien, daß ihnen nichts mehr gelingen wolle und ihre Welt in sich zerfalle.

Am Rande trat die Frage nach der Funktion dieser Krise auf, ob sie Gottes Strafe oder Prüfung sei, Vorbereitung oder Stunde vorm Schnitt. Ein junger Student warf die Behauptung in die Debatte, die Krise sei eine Folge des Versagens des Christentums. Die Christen hätten sich unfähig erwiesen, ihren eigenen Lehren gemäß zu leben. Man dürfe sich deshalb nicht wundern, wenn auf Grund des jahrhundertelangen Enttäu schungserlebnisses die Menschen radikal geworden wären und sich weigerten, an die alten Autoritäten zu glauben und womöglich von ihnen bekehrt zu werden.

Zum Schluß kam die Sprache auf die Ethik. Die Krise — Folge des Mangels an Ethik. Hier wurde auf die augenfällige Diskrepanz zwischen aufgebautem technischem Apparat und menschlicher Psyche hingewiesen. Die menschliche Seele habe es nicht vermocht, mit der äußeren Entwicklung Schritt zu halten. Gemüt und Vernunft seien durch die einseitige Hervorkehrung des Willens verkümmert und auf der Strecke geblieben. Es bedürfe des Aufbaus einer neuen Seelenkultur, des Wiederhineinlebens in Tradition, Sitte und echte Wertordnung. Die Krise der Gesellschaft sei nur so zu lösen, daß die Revolution durch Technik endlich ausgeglichen werde durch Revolution durch Ethik, moralische Erneuerung und Wiedergeburt.

Zusammenfassend kann somit festgehalten werden: Die Krise der Gesellschaft, deren einzelne Symptome so verschieden betrachtet und gedeutet werden, wird übereinstimmend von einer größeren Gruppe von Menschen, die ihrer Herkunft und Weltanschauung nach verschieden sind, auf zwei wesentliche Ursachen zurückgeführt: primär auf den Mangel an Ethik, an Glaubensbereitschaft, an Religion, sekundär auf organisatorische Unzulänglichkeiten ökonomischer, technischer und politischer Natur.

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