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Die „Kennedy-Generation“ rückt auf

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Eine Generation, welche das Gesicht der Schweiz geprägt hat, tritt heute ihren Rückzug aus der ersten Linie an. Das ist eben jetzt im Parlament offenkundig geworden. In den Oktoberwahlen sind ungewohnt viele ergraute Häupter durch Vertreter der „Kennedy-Generation“ ersetzt worden. Diese sind mit ganz anderen geistigen, sozialen und politischen Problemen groß geworden als jene. Die abtretende Generation ist mit den Nachwehen und Relikten der Kulturkampfzeit und in der Denkweise des nationalstaatlichen Zeitalters politisch groß geworden, die nun vorrückende Generation sieht die Aufgaben der „einen unteilbaren Welt“ auf die Schweiz zukommen und sich vor die Aufgabe der Bewältigung des rasenden technisch-zivilisatorischen Fortschritts gestellt. Andere Aufgaben prägen andere Politikertypen. Es ist doch wohl mehr als Zufall, wenn ausgerechnet die konservative Gruppe des eidgenössischen Parlaments sich einen noch nicht einmal 40jährigen Vertreter der jungen Generation zum neuen Präsidenten gewählt hat. Und es ist vielleicht auch nicht Zufall, daß dieser neue Mann, der erst zwei knappe Amtsperioden dem Nationalrat angehört, ein aktiver Sportler ist. Es gehört irgendwie zum Stil, der sich da ausbildet, daß er von Fitness und Fairness geprägt ist.

Diese neue Politikergeneration sieht sich der Tatsache gegenüber, daß für die jungen Bürger vieles, sehr vieles, das bisher „tabu“ war, nicht mehr selbstverständlich ist. Die rapid zunehmende Abhängigkeit der Schweiz von der Umwelt läßt bisher Undiskutables fragwürdig erscheinen. Man fühlt sich nicht mehr ganz wohl in dem ehedem so sicheren Port, sondern man hat das unbestimmte Gefühl, daß auch die Schweiz nicht darum herumkomme, aufs offene Meer hinauszusteuern und sich hier den Wettern auszusetzen. Darum wird von jungen Bürgern immer häufiger die Frage nach der Berechtigung der Neutralität und nach dem Sinn des Abseitsstehens gegenüber der europäischen Einigung gestellt.

„Selbstverständliches“ wird in Frage gestellt

Selbst Grundsätze, die in Frage zu stellen noch vor zwanzig Jahren als Todsünde wider das Vaterland gegolten hätte, werden heute mit Fragezeichen versehen. Greifen wir als ein bezeichnendes Beispiel die seit ein paar Monaten grassierende Infragestellung des Föderalismus heraus. Ein nonkonformistisches Wochenblatt macht sich ganz ungeniert über diesen Föderalismus lustig, und im Parlament hat ein Parlamentarier aus dem erzföderalistischen Lager der Konservativen die Frage aufgeworfen, ob nicht an die Stelle des alten kantonal abgestützten ein neuer, regional und kulturell konzipierter Föderalismus gesetzt werden sollte. Das könnte leicht zur Aushöhlung der staatsrechtlichen Struktur des Bundesstaates mit seinen kantonalen Hoheiten führen. In die selbe Linie gehören Sondierungen italienisch- und französischsprachi-

ger Professoren und Publizisten, ob nicht irgendeine Form eines romanischen Schulterschusses zur Bildung eines stärkeren Gegengewichts gegen das alemannische Element zu versuchen wäre.

Daß eine derartige Aufwertung des Volksgruppendenkens zu einem eigentlichen Umbau des Schweizerhauses führen müßte, liegt auf der Hand und mag zeigen, wie unkonventionell und nonkonformistisch heute in manchen Kreisen des sonst so traditionsbewußten Landes diskutiert wird. Ein neues Lebens- und Weltgefühl macht sich geltend, dessen Auswirkungen und Strahlungskraft im Moment noch ebenso schwer abzuschätzen sind wie die Widerstandsfähigkeit des in ländlichen Volkskreisen noch sehr stark verwurzelten Traditionsbewußtseins.

Das große Fragezeichen

Um sich ein verläßliches Bild über die Bedeutung des neuen Lebensund Weltgefühls der jungen Generation für die Zukunft des Landes zu machen, müßte man natürlich wissen, wie groß der Prozentsatz der Bürger ist, der bereit ist, Bewährtes in Frage zu stellen und die Risken von Experimenten in Kauf zu nehmen. Wenn manche mit solchen Gedanken sympathisieren, so braucht das noch nicht zu heißen, daß sie zu solchen Ideen stünden. Ihnen liegt, nicht daran, alles mögliche auf den Kopf zu stellen, wohl aber ist Ihnen daran gelegen, daß durch mutige Infragestellung von bisher ungeprüft Überkommenem die Schweiz von 1963 aus ihrer Sicht der Dinge und nicht aus der Sicht ihrer Großväter die Probleme anpacke, die auf das Land zukommen.

Gerade ein auf Traditionen bauendes Land hat, um nicht in Konventionen zu erstarren, geistige Unruhestifter nötig, die nach vorne weisen. Aber um es zur Vermeidung von Mißverständnissen nochmals zu unterstreichen: Was wir hier an Symptomen und Feststellungen namhaft gemacht haben, sind lediglich Mosaiksteinchen. Sie zum wirklichkeitsgetreuen Bild der Schweiz zusammenzufügen, ist schwierig. Sicher aber ist, daß das Selbstverständnis der Schweiz in Wandlung begriffen ist.

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