Von der Pflicht zur Freiwilligkeit?

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Die sozialpartnerschaftliche Landkarte in Österreich hat sich gewandelt: Mit Harald Mahrer ist ein Präsident in der Wirtschaftskammer (WKO) am Ruder, der nicht wie Christoph Leitl oder Leopold Maderthaner aus der Tradition der Sozialpartner kommt. 

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Die sozialpartnerschaftliche Landkarte in Österreich hat sich gewandelt: Mit Harald Mahrer ist ein Präsident in der Wirtschaftskammer (WKO) am Ruder, der nicht wie Christoph Leitl oder Leopold Maderthaner aus der Tradition der Sozialpartner kommt. 

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"Über die abgeschlossenen Kollektivverträge tragen wir zum sozialen Frieden in Österreich bei. In Deutschland, ein sehr sicheres Land, wird dreimal so viel gestreikt wie in Österreich", sagte vor mehr als einem Jahr der frühere, langjährige Wirtschaftskammer-Präsident Christoph Leitl noch zu seinen Mitgliedern.

"Ein einziger Tag Streik würde die heimische Industrie mehr kosten als im ganzen Jahr an Kammerumlagen gezahlt werden." Ein Jahr und eine neue Regierung später sieht die sozialpartnerschaftliche Landkarte in Österreich ein wenig anders aus: Mit Harald Mahrer ist ein Präsident in der Wirtschaftskammer (WKO) am Ruder, der nicht wie Christoph Leitl oder Leopold Maderthaner aus der Tradition der Sozialpartner kommt, wie es Laurenz Ennser-Jedenastik, Politikwissenschaftler am Institut für Staatswissenschaften der Universität Wien, formuliert. Im Gegensatz zu seinen Vorgängern komme er aus der Politik, war Staatssekretär und Wirtschaftsminister in früheren Regierungen.

Langjährige Forderungen

Ende Juni trat die Bundesregierung an die größten Interessenvertretungen Wirtschaftskammer und Arbeiterkammer heran. Sie forderte von ihnen Reformen bei den Strukturen ein. Anderenfalls würden "gesetzliche Maßnahmen" folgen. Das Zauberwort, hinter dem sich etwa die Reform der WKO versteckt, heißt "Wirtschaftskammer 4.0". Die Interessenvertretung soll abgespeckt und zu einer serviceorientierten Einrichtung für die Mitglieder umgebaut werden. Über 100 Mio. Euro wolle man über Umstrukturierungen in wenigen Jahren einsparen, heißt es von dort. Es seien Entlastungen, die alle Unternehmer spüren sollen. So werden etwa Mehrfachgrundumlagen innerhalb einer Fachgruppe abgeschafft. Auch würden Neugründer im ersten Jahr von der Grundumlage befreit, so die Kammer.

"Einige Punkte der Reform betreffen langjährige Forderungen vieler ihrer Mitglieder, wie zum Beispiel die Abschaffung der Mehrfachgrundumlage, die für Unternehmer nicht einsichtig ist. Und sie betreffen vor allem kleine Unternehmen und innovative Start-Ups", sagt Bernhard Kittel, Wirtschaftssoziologe an der Universität Wien.

Nicht nur die Wirtschaftskammer, auch die Arbeiterkammer (AK) muss in den nächsten Jahren strukturell "abspecken" - setzt aber laut eigenen Angaben gleichzeitig auf den Ausbau ihrer Leistungen. Über 150 Mio. Euro sollen im Rahmen eines Zukunftsprogramms in diese fließen, heißt es. "Unser Zukunftsprogramm heißt mehr Leistungen und mehr Service bei gleichem Beitrag für die Mitglieder", sagt AK-Präsidentin Renate Anderl.

"Die Regierung hat noch kein Gesetz zur Änderung bei den Kammern vorgelegt", sagt Ennser-Jedenastik. Eine mögliche Änderung bei der Pflichtmitgliedschaft hielte er allerdings für eine "große Überraschung". Dafür hätten in der ÖVP noch zu viele das Sagen, die das verhinderten, meint der Politikwissenschaftler. Die ÖVP selbst wollte trotz mehrfacher Anfrage weder zur Pflichtmitgliedschaft noch zu konkreten Reformplänen Stellung nehmen.

"Kammern sichern Privilegien"

Ohne Pflichtmitgliedschaft müsse die Kammer durch Leistung und Service punkten, heißt es von den NEOS, die seit Jahren vehement gegen die Pflichtmitgliedschaft ins Feld ziehen. Die Interessenvertretungen würden damit gezwungen, auf die Anliegen der Arbeitnehmer und Unternehmer einzugehen. Heute könnten sie sich bequem zurücklehnen und bräuchten sich nicht um ihre Mitglieder zu bemühen, sagt Sepp Schellhorn, Hotelier und Nationalratsabgeordneter der NEOS. "Die Mitgliedsbeiträge fließen unabhängig von der Leistung der Kammern." Das habe langfristig dazu geführt, dass die Kammern keine Interessenvertretungen mehr seien, sondern vor allem ihre eigenen Privilegien sichern, ist er überzeugt. Die FPÖ, die sich gerne kritisch zum "Kammernstaat" äußert, reagierte bis Redaktionsschluss nicht auf eine entsprechende Anfrage zur Beitragssenkung und zur Zukunft der Kammern.

Die NEOS überzeugen die Reformpläne bislang nicht. "Reform ist das keine -eine solche sieht anders aus", sagt Sepp Schellhorn im Gespräch mit der FURCHE. Es werde dabei weder an den Strukturen noch an der Zwangsmitgliedschaft gerüttelt. "Die Einsparungen, die die WKO den Unternehmen versprochen und präsentiert hat, werden in den nächsten Jahren durch die steigenden Einnahmen aus den Umlagen wieder ausgeglichen."

Anna H. (Name der Redaktion bekannt) ist Einzelunternehmerin in Wien. 65 Euro Kammerumlage zahlt die Unternehmensberaterin jedes Jahr. "Ich brauchte die WKO nicht. Ich empfinde sie als einen veralteten, bürokratischen Haufen". Für sie spiegle die Kammer vor allem große Unternehmen wider, weniger KMUs und EPUs. Die 53-Jährige erzählt von einer E-Mail-Informationsflut und vom Print-Magazin "Unternehmerin" der WKO, das sie regelmäßig erhält und in dem "Star-News" oder "best practices" verbreitet würden. Das Magazin hat sie daher nach ihren eigenen Worten in "WKO-InTouch" umgetauft und ihr ursprüngliches Engagement bei Events, Workshops und Netzwerktreffen heruntergefahren. Anna H. spricht sich gegen die Pflichtmitgliedschaft und die politische Einflussnahme auf die Kammern aus. Beides empfinde sie als Sand im Getriebe für eine wirtschaftlich zukunftsfähige Entwicklung. Für Sepp Schellhorn nutze Harald Mahrer die Kammer weiterhin als "ÖVP-Vorfeldorganisation und Rangierbahnhof" für Funktionäre. Sie sei von einer echten Interessenvertretung meilenweit entfernt.

"Reformen in der WKO sind seit Langem mehr als notwendig", sagt Haider Shnawa, Geschäftsführer eines IT-Unternehmens in Wien. Er begrüßt die Senkung der beiden Kammerumlagen zu Jahresbeginn. Eine Streichung der Pflichtmitgliedschaft, wie sie die NEOS fordern, klinge zwar verlockend. Doch für eine starke Vertretung der Unternehmer durch die Wirtschaftskammer zahle er gerne seinen Beitrag. Eine freiwillige Mitgliedschaft verbessere das System nicht, ebenso wenig dessen Effizienz, sagt Shnawa: "Als Mitglied werde ich alle paar Jahre aufgerufen, meine Vertretung zu wählen." Aufgrund der fortschreitenden Digitalisierung sollte seine Interessenvertretung jedoch rascher auf die Bedürfnisse der Mitglieder reagieren und sie auch dazwischen in Entscheidungen stärker einbeziehen -etwa durch Abstimmungen, so der Unternehmer. Dadurch würde sie an Aufmerksamkeit und Relevanz gewinnen. "Hier steckt noch ganz viel Potenzial", ist Shnawa überzeugt.

Lieber auf eigene Faust

"Es muss sich viel ändern, denn so wird die Wirtschaftskammer nicht weitermachen können", findet Anna H. Sie weiß von Unternehmern, die die Kammerumlage aussetzen, weil sie mit den Leistungen unzufrieden sind. Für Haider Shnawa hingegen ist das ein falsches Signal. Eine sanfte Reform bringe mehr als eine Zerschlagung von Wirtschaftskammer und Arbeiterkammer, ist er überzeugt.

"Der Glaube an diese ausgleichende Funktion der Kammern, von dem alle profitieren, ist heute bei vielen Unternehmern verloren gegangen", sagt Wirtschaftssoziologe Kittel. Der administrative Aufwand sei derzeit zu hoch. Viele würden sich lieber den Mitgliedsbeitrag sparen und versuchen, auf eigene Faust ihren Gewinn zu maximieren, denkt der Wissenschaftler.

Freiberufler wie Martin F. (Name geändert) müssen keiner Kammer angehören. Der 39-Jährige betreibt seit über zehn Jahren eine Praxis für Osteopathie. In der Vergangenheit sprachen ihn Bekannte auf eine Änderung der Rechtsform seiner Praxis an, damit er seinen Leistungsumfang erweitern könne, Kammermitglied werde und damit auch als Unternehmer dort vertreten werde. Doch Martin F. lehnte ab: "Ich sehe in einer Kammermitgliedschaft derzeit überhaupt keine Vorteile."

Ende der Sozialpartnerschaft?

"Es wird darauf ankommen, wie viele Unternehmen die Vorteile der Wirtschaftskammer noch sehen", sagt Bernhard Kittel. Er geht davon aus, dass das Ende der Pflichtmitgliedschaft einen Erosionsprozess in der Kammer auslösen würde, die sie in die Bedeutungslosigkeit verschwinden ließe. Damit würde die Gewerkschaft den Verhandlungspartner verlieren und die Lohnverhandlungen würden auf die Betriebsebene fallen, befürchtet er. "Dies wird die ohnedies ansteigende Ungleichheit in Österreich nochmals massiv antreiben." Für AK-Präsidentin Anderl werde es ohne gesetzliche Mitgliedschaft keine Kammern, keine Sozialpartnerschaft und auch keine verbindlichen Kollektivverträge mehr geben. "Die Pflichtmitgliedschaft verpflichtet die Politik, den Arbeitnehmern zuzuhören", ist sie überzeugt. Das System der Kollektivverträge soll auch nach dem Ende der Kammermitgliedschaft weiter bestehen bleiben, sagen die NEOS. Gleichzeitig sprechen sie sich für eine Aufwertung der Betriebsräte aus.

Hinter der Entmachtung und Marginalisierung der "kollektiven Arbeitnehmervertretung" durch die Regierung vermutet Bernhard Kittel jedoch eine Strategie: "Möglicherweise ist die Schwächung der Wirtschaftskammer nur ein Kollateralschaden dieser Strategie, der auch von den Betroffenen in Kauf genommen wird, weil sie sich selbst stark genug fühlen."

Haider Shnawa hofft, dass diese Szenarien nicht eintreten werden. Die Sozialpartnerschaft dürfe keinesfalls verloren gehen, da sie gesellschaftliche Stabilität mit sich bringe und zum sozialen Frieden beitrage, sagt er. Ein Parlament oder eine Regierung könne die Aufgaben der Sozialpartner nicht übernehmen, ist der Unternehmer überzeugt. Er vermisst von der Bundesregierung ein klares Bekenntnis zur Sozialpartnerschaft. All jene, die die Kammern zerschlagen wollen, könnten keine brauchbaren Alternativen vorweisen. "Es kommt einfach nichts Besseres nach", sagt Shnawa. "Davon bin ich überzeugt."

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