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Kleine Fische - grobe Politik

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170.000 Menschen leben laut der jüngsten Bevölkerungsstatistik aus Reykjavik am Anfang des Jahres 1960 auf Island. Um diese 170.000 Isländer mit den lebensnotwendigen Gütern des täglichen Bedarfs zu versorgen, um sie an den selbstverständlichen Errungenschaften der Zivilisation teilnehmen zu lassen, ist man auf Importe angewiesen. Es gibt auf der Insel keine nennenswerte Industrie, es gibt weder Bodenschätze noch Holz; nur ein schmaler Küstenstreifen ist landwirtschaftlich nutzbar. Von den Lebensmitteln bis zu Treibstoffen und technischen Apparaturen, vom Schuhband bis zur Trawlerausrüstung muß man alles importieren. Bezahlt werden soll diese Einfuhr — wenn keine langfristigen Kredite zur Verfügung stehen — mit Fischen. Im Jahre 195 8 machte der isländische Export von Fischen und Fischereierzeugnissen 92 Prozent des Gesamtexports aus. Man importierte im gleichen Jahr für runde 1,4 Milliarden isländische Kronen, der Export belief sich auf 1,07 Milliarden. In den ersten neun Monaten des vergangenen Jahres — so weit liegt die Außenhandelsstatistik bisher vor — waren die entsprechenden Zahlen 1,03 Milliarden und 750 Millionen. Die negative Handelsbilanz gehört seit Jahren zu den ungelösten Aufgaben der jeweiligen Regierungen. Es gibt noch einige Fakten und Zahlen, die Islands neuem Regierungschef Olafur Thors Sorgen bereiten: die Sowjetunion ist Islands wichtigster Handelspartner geworden. 42 Prozent der Gefrierfischexporte gehen an die Adresse Moskaus — erst mit weitem Abstand folgen die USA mit nur 29 Prozent der Haupthandelsware. Insgesamt ist die wirtschaftliche Verflechtung und — wie man in Reykjavik fürchtet — Abhängigkeit zum Ostblock stärker, als die zu den westlichen Ländern zusammengenommen. Aus der Sowjetunion bezieht Island heute den größten Teil der Treibstoff-, Weizen-, Holz-und Automobilimporte, während sich Ostdeutschland auf die Belieferung Islands mit Fahrzeugausrüstungen spezialisiert hat. Erst jüngst schloß man in Ost-Berlin einen neuen Handelsvertrag, laut dem der Warenaustausch um zwölf Prozent erhöht werden soll.

Wenn man die Abgeordneten des Allting (des isländischen Parlaments) auf diese Fakten hin anspricht, wird man recht bald die Antwort hören, daß Island diesen Weg nicht freiwillig gewählt hat, im Gegenteil, die westlichen Bündnisstaaten, denen Island durch die NATO verbunden ist, haben das Land dem östlichen Sog ausgeliefert. In Wirklichkeit beobachte man die Entwicklung mit Befürchtungen. Nicht zuletzt in Stockholm bei der letzten Tagung des Nordischen Rates hatte man die Möglichkeit zu einem Erfahrungsaustausch mit finnischen Parlamentariern. Unmißverständlich wurde die Warnung laut, nicht nur auf die „rote Karte“ zu setzen. In der Tat hat man heute auch schon in Reykjavik verstanden, wie geschickt man in Moskau vorteilhafte Handelsverträge mit politischen Auflagen verbinden kann. Das warriende Beispiel Finnland hat im politischen Bewußtsein der nordischen Völker tiefe Spuren hinterlassen. Und wenn es nach den Plänen der neuen Regierung auf der Insel geht, so wird man schon in den kommenden Monaten die erforderlichen Konsequenzen daraus ziehen. Hand in Hand damit freilich müßte die internationale Klärung des Zwistes um die isländische 12-Meilen-Schutzzone gehen, wozu nach Darstellung der Isländer am Vorabend der Genfer Konferenz über Seerechtsfragen gute Aussichten bestehen.

Das isländische Dilemma erreichte seinen Höhepunkt mit dem Ausbruch des „Fischereikrieges“ mit Großbritannien. Dem Geplänkel vor der Küste folgten das britische Anlande-verbot für Islandfisch in den Häfen des Commonwealth und das strikte Nein aus Reykjavik zur Teilnahme an der Londoner NATO-Konfe-renz. Das allgemeine Unverständnis für Islands schwierige Situation führte zu einer Isolation im gleichen Zeitpunkt, als die innenpolitischen Verhältnisse auf der Insel höchst unstabil waren. Die Kommunisten eroberten 15,6 Prozent der Allting-Mandate, als Moskaus Angebot für Wirtschaftshilfe und Anerkennung der Fischereiinteressen im Küstenbereich eintrafen. Obwohl alle Parteien auf Island den Schutz der Zwölfmeilenzone forderten — es bestanden allerdings beträchtliche Unterschiede, was die praktischen Maßnahmen anbelangt —, konnte man sich über die Zusammensetzung der Regierung nicht einigen. Während die Kommunisten eine Verschärfung des „Fischkrieges“ vor der Küste forderten, zudem den „umgehenden Austritt aus der NATO“ empfahlen und einen engen Anschluß an die Ostblockländer guthießen, wollten die „Unabhängigen“ unter Olafur Thors einen Kompromiß mit London finden. Im gleichen Fahrwasser wie die Unabhängigen (Konservative) schwammen die Sozial-' demokraten, deren Parteisprecher und lang-* jähriger Außenminister, Gudmundur Gudmunds-son, die Lage wie folgt umriß: „Die Sonderstellung Islands, seine totale Abhängigkeit von der Fischerei und sein vitales Interesse an der Erhaltung der Fischbestände in den isländischen Küstengewässern sollen und müssen früher oder später von den anderen Ländern anerkannt werden.“ Elf Monate lang regierte in Reykjavik ein sozialdemokratisches Minoritätskabinett. Geschickt wichen Ministerpräsident Emil Johns-son und sein routinierter Außenminister Gud-mundsson allen weittragenden Entscheidungen aus, die Politik des Kompromisses setzte sich durch. Im Juni des Jahres 1959 deutete sich der erste Umschwung im zerrissenen innenpolitischen Leben Islands an. Den 97.000 Wahlberechtigten stellten sich in 30 Wahlkreisen 260 Kandidaten. Sie kämpften in einer heißen Wahlschlacht, wie Island sie in seiner Geschichte noch nicht erlebt hatte, um die 52 Mandate im Allting. Zwei Fragen dominierten in den Wahldebatten: der Fischereikrieg mit Großbritannien und dessen Führung durch die Regierung sowie die von den demokratischen Parteien geforderte Änderung des Wahlgesetzes. Die bürgerliche Front setzte sich gegenüber dem sozialistischen Block durch: die Konservativen konnten 20 Mandate erringen, die Fortschrittspartei brachte es auf 19, während die Sozialdemokraten sich mit 6 Mandaten und die Kommunisten mit 7 Mandaten zufriedengeben mußten. Die Kommunisten verloren nicht weniger als 25 Prozent ihrer Stimmen im Bezirk der Hauptstadt Reykjavik und rund 22 Prozent im Landesdurchschnitt, die Sozialdemokraten mußten sich damit abfinden, daß ihr Parteichef Johnsson und der Justizminister des Minoritätenkabinetts, Skaiphedinsson, nicht wiedergewählt wurden.

Der Allting trat nur zusammen, um über die neue Wahlgesetzgebung abzustimmen. Die Mehrheit gab ihre Zustimmung dazu. Mit Unterstützung der konservativen „Unabhängigen“ regierten die Sozialisten bis Anfang Oktober. Zu diesem Termin waren die außerordentlichen Neuwahlen ausgeschrieben. Die Alltings-mandate wurden von 52 auf 60 erhöht, die Wahlkreise wurden von -30 auf 8 zusammengefaßt. Die Wahlpropaganda überschlug sich und stellte selbst die Juniwahlen in den Schatten. Das Ergebnis brachte trotzdem keinen Erdrutsch, das Stärkeverhältnis blieb in etwa das gleiche. Freilich war nun die Voraussetzung für eine stabile Regierung gegeben. Die Schlußzählung ergab folgendes Bild: Die Unabhängigen (Konservativen) erreichten 24 Mandate und 33.798 Stimmen (Juniwahl: 20 Mandate), die Fortschrittspartei 17 Mandate und 21.984 Stimmen (JuniwahJ: 19 Mandate), die Kommunisten kamen auf 10 Mandate und 13.621 Stimmen (Juniwahl: 7 Mandate) und die Sozialdemokraten erreichten 9 Mandate mit 12.910 Stimmen (Juniwahl: 6 Mandate).

Staatsminister Asgeirsson beauftragte den konservativen Unabhängigen Olafur Thors nach Emil Johnssons Rücktritt mit der Regierungsbildung. Dieser beschloß, die bereits erprobte Koalition mit den Sozialdemokraten fortzuführen. Beide Parteien verfügen nunmehr über 33 von insgesamt 60 Alltingsmandaten. Damit zog in Reykjavik wieder eine stabile Mehrheitsregierung ein. Eine Regierung, die eine neue Epoche isländischer Politik einleiten will. Thors erste Pressekonferenz nach Bildung der Koalitionsregierung ergab wertvolle Aufschlüsse. Außenminister bleibt der erfahrene und international anerkannte Sozialdemokrat Gudmundur Gudmundsson. Je zwei Ministerposten besetzen die Unabhängigen und Sozialdemokraten. Eigens ein Posten als „Fischereigrenzminister“ — unabhängig vom Fischereiministerium — wurde besetzt, damit die politische und wirtschaftliche Problematik des Grenzzwistes nicht unmittelbar mit wirtschaftlichen Momenten vermengt wird. Als Hauptaufgaben der neuen Regierung bezeichnete man in Reykjavik die friedliche Lösung des britisch-isländischen Streits um die Schutzzone, die Vermeidung einer allzu einseitigen Handelsverbindung des Landes nach Osten hin und den notwendigen Ausgleich des Außenhandels. Auf innenpolitischem Plan stehen eine tiefgreifende Steuerreform und die Hebung des Vertrauens in die Währung auf der Tagesordnung. Nach wenigen Wochen Regierungszeit können Olafur Thors und seine Koalitionspartner schon auf die ersten Erfolge zurückblicken. Die Spareinlagen und damit das Vertrauen der Bevölkerung in die Währung sind im Wachsen, die politische und wirtschaftliche Zusammenarbeit mit den skandinavischen Brudernationen erreichte einen deutlichen Aufschwung. Im Handelsministerium plant man indessen die „Eroberung“ des kontinentalen Marktes. Neue Fischverarbeitungsmaschinen und neue Kühlanlagen im Ausbau, Verhandlungen mit der Bundesrepublik Deutschland über einen Anschluß Westdeutschlands an die isländische Tiefkühlkette sind im Gange. Jede Chance soll genützt werden, um neue Märkte für den qualitativ sehr guten Islandfisch — „das tägliche Brot für 170.000 Isländer“ — zu erschließen.

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