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Rebellion in Idyllien

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An einem der ersten lauen Frühlingstage gegen Ende April, erhielten die Besatzungen in den Streifenwagen der Stockholmer Polizei, die sich in der Nähe des vornehmen Diplomatenviertels befanden, einen im ersten Augenblick unverständlich scheinenden Auftrag: Die Polizeizentrale teilte ihnen mit, daß die Botschaft der Republik Island von aufrührerischen Studentengruppen besetzt worden sei, die den geschäftsführenden Attache entfernt und an Stelle der isländischen Flagge die rote Fahne der Revolution gehißt hätten! Es soll keinen Polizisten gegeben haben, der in diesem Augenblick nicht an ein Mißverständnis geglaubt hätte. Island? Wieso Island? Meinte man nicht Rußland, oder Griechenland, oder Äthiopien? Fahrtorder zu diesen Botschaffen waren nahezu alltägliche Ereignissse, doch im Falle Island wußte man nicht einmal, daß der kleine Inselstaat in Stockholm eine richtige Botschaft unterhielt!

Doch die Okkupation war eine Tatsache, und sie war für die Polizei und das schwedische Außenamt eine ebenso peinliche und heikle Angelegenheit, wie es die Okkupationen anderer Botschaften gewesen waren. Vom Balkon der Botschaft wehte eine blutrote Fahne, die Angestellten waren mit milder Gewalt entfernt worden. Aus den Fenstern warfen die Studenten Flugzettel, in denen die Regierung Islands der Unfähigkeit, des Verrates und der Unterwürfigkeit vor der NATO-Macht USA beschuldigt wurde. Im übrigen forderte man den Austritt aus der NATO, den Abzug der fremden Truppen von der Insel, eine effektivere Wirtschaftspolitik und die Umwandlung Islands in eine sozialistische Demokratie. Das war alles so ziemlich das gleiche wie bei einer Okkupation der griechischen Botschaft, die ebenfalls schon versucht worden war.

Nachdem sich die Außenämter der beiden Länder geeinigt hatten, drang die Polizei in die Botschaft ein und führte die Studenten ab, ohne daß es dabei zu Zusammenstößen gekommen wäre.

Eine der Hauptursachen der Unruhe auf der Insel ist die fortlaufende Verschlechterung der wirtschaftlichen Situation. Der Ertrag der Fischerei geht seit vier Jahren ununterbrochen zurück. Vor dem Jahre 1967 brachte man jährlich 1,2 Millionen Tonnen Heringe ein, 1969 waren es nur noch 600.000 Tonnen. Der Fischexport ergab früher 140 Millionen Dollar jährlich, nun sind es nur noch 80 Millionen Dollar — bei steigenden Staatsausgaben. Der Export des Inselstaates besteht zu fast 90 Prozent aus Fischen. Nun versucht man Industrieunternehmen in das Land zu locken — man verfügt über Elektrizität und heißes Wasser in Fülle —, doch dieser Prozeß geht sehr langsam vor sich. Man hat mit Hilfe von Schweizer Geldgebern eine Aluminiumfabrik gebaut, doch das ist eben nur ein bescheidener Anfang. Die Valutasituation ist trostlos, und in wenigen Jahren hat man den Wert der Krone zweimal vermindern müssen. Immer mehr Isländer sehen keinen anderen Ausweg, als nach Dänemark oder Schweden auszuwandern.

Das Land wird von der Selbständigkeitspartei — einer Partei am äußersten rechten Flügel — und von den Sozialdemokraten regiert. Die Konservativen haben 23, die Sozialdemokraten 9 von den 60 Mandaten des Parlamentes inne. Den Sozialdemokraten wirft die Opposition der Jungen vor, daß sie sich in so gut wie allen Fragen den Konservativen unterordnen und vor allem dem starken Einfluß der USA nicht entgegentreten. Die NATO-Basis auf Keflavik, 50 Küometer von Reykjavik entfernt, besteht aus 5000 Amerikanern. Obwohl die Amerikaner viele schöne Dollars in das Land gebracht haben, möchte sie heute eine überwiegende Mehrheit des isländischen Volkes gerne loswerden. Die uralte Bauerndemokratie Island, die sich vor mehr als tausend Jahren das erste Parlament der Welt geschaffen hat, muß die Existenz einer „Besatzungsmacht“ als eine Erniedrigung betrachten. Vor allem die Jugend aller Parteien reagiert heute ganz anders als ein großer Teil der Isländer vor 20 Jahren reagiert hat. Das ist so schlimm geworden, daß die Amerikaner auf Keflavik nun nur noch an einem Tag in der Woche, am Mittwoch, Reykjavik besuchen dürfen. Und an diesem Tag herrscht zudem in der Hauptstadt Alkoholverbot! Eine Reihe von blutigen Schlägereien hat die Atmosphäre vergiftet. Immer wieder kommt es zu Demonstrationen gegen Keflavik. Der Regierung, dem Rundfunk und auch der einzigen größeren Zeitung des Landes, „Morgunbladit“, wirft man Rechtsextremismus und eine unisländische und proamerikanische Haltung vor. Nach Meinimg der Kritiker — und nicht nur der hier ziemlich starken Kommunisten, die siebzehn Mandate im Parlament haben! — ist es heute die NATO, die über alles, was auf Island geschieht, bestimmt. Gleichzeitig weiß niemand, was geschehen soll, wenn die Amerikaner wirklich plötzlich das Land verlassen sollten. Island ist ein armes Land, das schwere Jahre durchlebt: Man braucht die Fische, die nicht kommen wollen, und man braucht die Amerikaner, die nicht fortgehen wollen; man verdient an der geographischen Lage und man leidet an ihr. Es ist heute eben nicht allzu einfach, ein Bewohner Idylliens zu sein.

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