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Digital In Arbeit

Reich, aber ratlos

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"iv t och sind die reichen Gesell-ä schaften ruhig. Aber die Millionenzahlen der Arbeitslosigkeit, wachsende Zonen des Elends, ein leicht zu schürender Fremdenhaß kündigen das Ende dieser trügerischen Ruhe an. Zum erstenmal seit Jahrzehnten sind große Teile der Eliten ratlos; Desorientierung breitet sich unter Managern und Politikern aus. Niemand wagt es, die „Systemnotwendigkeit" fortgesetzter Expansion in Frage zu stellen; das aber „zwingt" zu massiverer Aussonderung und Opferung von „Überflüssi-

Die einzige, innerhalb des Paradig-' mas der Arbeitsgesellschaft verbleibende Alternative ist die Rettung einer - durch die Rettungsaktion zusammengeschmiedeten - Mehrheit auf Kosten ausgegrenzter Minderheiten. Beschleunigte Prozesse der Gewaltsteigerung sind absehbar, und sie werden jedenfalls eine Verwandlung der Arbeitsgesellschaft in Gang sej,i, zen deg; Das wird zurecht vor allem als Herd von Gefährdungen eingeschätzt. Es eröffnet sich aber zugleich die Chance, Szenarien der Verwandlung der Arbeitsgesellschaft zu entwerfen und neue Verständigungen zu suchen quer zu den bisherigen Inter-essenslagen und Denkschulen.

Die Verwandlung der Arbeitsgesellschaft wird, so viel ist sicher, ein dramatischer Vorgang sein, für den sich keine „sicheren", also den jetzigen Zustand in die Zukunft fortschreibenden Erwartungen formulieren lassen. Das im Scheitern der Arbeitsgesellschaft beginnende soziale Chaos kann zu sehr verschiedenen „neuen Ordnungen" führen.

Ein wahrscheinliches Szenario beschreibt den Rückfall nicht bloß hinter 1789, sondern hinter 1648. Mit dem obsolet werdenden Nationalstaat europäischer Prägung könnten Institutionen der Freiheit und damit Politik überhaupt obsolet werden. In dieser Perspektive droht ein gewalttätiges Nebeneinander von willkürlichen, durch sanktionierte Glaubenssysteme abgeschirmten Herrschaften.2' Nach dem Chaos: neue Mischungen von Zwangsarbeit plus Elendssubsistenz?

Ein nicht minder bedenkenswertes Szenario beschreibt die neue Ordnung als das stabilisierte, normalisierte vir-tualisierte Chaos, die Huxley-Gesell-schaft:5' Eine Gesellschaft, in der Gewalt unsichtbar wird, indem sie in Form von genetischer Manipulation, Drogen, Gehirnwäsche alltäglich und alldurchdringend wird.

Doch wer eigentlich will den chaotischen Zerfall der Arbeitsgesellschaft, will als Zerfallsprodukte derlei „neue Ordnungen", wer könnte sie wollen? Warum nicht die Verständigung suchen über eine weniger gewaltträchtige Transformation der Arbeitsgesellschaft?

Die Chance kann als zugleich kulturelles und politisches Eingreifen in

die Ökonomie erkannt werden. Solches Eingreifen wäre auf das Nebeneinander von Reformen innerhalb der fortbestehenden Arbeitsgesellschaft und den Übergang zu einer nicht auf Arbeit zentrierten Tätigkeitsgesellschaft zu konzipieren. Beide - gewiß gegensätzliche - Orientierungen können verbunden werden zum Vorhaben eines Umbaus der Arbeitsgesellschaft.

Arbeit/Tätigkeit, wozu diese Unterscheidung? Es gilt, ein naheliegendes Mißverständnis zu vermeiden. Eine fortwirkende Tradition, die übri -gens die christliche Soziallehre und das Paradigma der historischen Arbeiterbewegung verbindet, sieht in der Arbeit ein zentrales Feld menschlichen Tuns. Das wird hörbar etwa in der Forderung nach dem „Recht auf Arbeit". Doch in der auf Profit ausgerichteten kapitalistischen Gesellschaft zählt nur Erwerbsarbeit als Arbeit. Worum es aber heute geht, das ist die Stärkung eines nicht auf inhaltsleere Profitsteigerung, sondern auf sinnvolles und verantwortbares Fun gerichteten Lebens. Auch wenn das fallweise Nicht-Erwerbsarbeit ist oder, um der Differenz den positiven Namen zu geben: sinnbezogene

Tätigkeit. Dieses Bündel von Umbauszenarien setzt einerseits an der Realität der Arbeitsgesellschaft an und läßt sich auf Maßnahmen ein, die ihren Verfall bremsen und die Auswirkungen mildern sollen. Andererseits soll mit dem Paradigma der Arbeitsgesellschaft radikal gebrochen werden. Entscheidend für diesen Bruch ist der Umgang mit Gewalt.

Wenn die aus Leidenschaften und Interessenstreit hervorbrechende Gewalt nicht bloß unterdrückt, aber auch nicht in die sinnlose und sinnzerstörende Expansion nach Art der Arbeitsgesellschaft umgelenkt werden darf, muß eine Innovation im Umgang mit Gewalt ins Werk gesetzt werden. Die angestrebte Innovation steht unter dem Vorrang des politischkulturellen Handelns vor dem instrumenteilen Herstellen und Arbeiten, vor Produktion und Konsum. Der Weg ist eine erneuerte Gegenseitigkeit, die sich praktisch in einem neuen Teilen niederschlägt.

Neu zu teilen ist nicht allein Arbeitszeit als Ausgleich der Lebensarbeitszeit, sondern auch der Zugang zu bevorzugten und zu weniger geschätzten, aber notwendigen Arbeitsverhältnissen, vor allem zu Tätigkeiten, die ohne Rücksicht auf Erwerb das Leben bereichern. Das kann nicht abgehen ohne sorgsam organisiertes Neuteilen von Einkommen und Vermögen. In dem Maß, wie in diesem Teilen Gewalt vermieden werden kann, können die Zwänge der Arbeitsgesellschaft ausdünnen.

Drei Pfeiler müßten den Umbau der Arbeitsgesellschaft absichern

Von der Arbeitsgesellschaft zur Tätigkeitsgesellschaft, in diesem angestrebten Übergang sind nebeneinander drei Pfeiler zu gründen und abzusichern: Der Hauptpfeiler des Umbaus ist die Festigung von - und das Erfinden von - Lebensbereichen, in denen sinn-be-stimmte Tätigkeit organisiert wird (im Kontrast zu erwerbs-bestimmten Arbeitsplätzen). Die so brutal unterdrückten, so raffiniert auf Konsum umgesteuerten Fähigkeiten zu sinnvollem Leben lassen in einer gewaltmindernden sozialen Umgebung neue Kombinationen von Subsistenz und anspruchsvoller Verwirklichung erwarten: Leben als Kunstereignis -vermutlich von höchst unterschiedlichen Charakteren.

Die Inhalte und die Organisationsformen können nicht und dürfen nicht von außen vorgegeben werden. Doch bedarf es der staatlichen Ermöglichung und anfänglicher Förderung. In einer Vielzahl von kleinen sozialen Netzen kann eine direktere Gegenseitigkeit eingeübt werden, teilweise über Geld, teilweise über Vereinbarung organisiert. Für einen großen Teil der Wünsche und Bedürfnisse spielen ja die Produkte einer globalisierten Profitwirtschaft nur eine Nebenrolle - soweit sie nicht gar Mißbrauch und Scheinaktivität, Ab-

hängigkeiten und friedlose Leere provozieren. Viel von den Lebenswünschen, die jetzt in die Konsum-Produktion-Profi tspirale eingesaugt werden, kann in einem freien Miteinander besser gelebt werden.

Für viele wird es eine soziale Absicherung nicht mehr geben. Das produziert Gewalt

Doch wer kann sich überhaupt an der Gründung dieses Hauptpfeilers beteiligen? Ein zweiter Pfeiler des Umbaus ist daher unentbehrlich: eine allgemeine, symptomfreie Grundsicherung. Die jetzt an das Funktionieren der Arbeitsgesellschaft (oder private Vorsorge) geknüpfte soziale Sicherung wird für große Minderheiten scheitern, und dieses Scheitern wird Gewalt provozieren. Im Gegensatz dazu können zumindest die reichen Gesellschaften ein von Arbeitsleistung oder Mangelnachweisen unabhängiges Existenzgeld (ein Bürgergeld, unbedingtes Einkommen, Grundeinkommen...) aufbringen, das für jede und jeden die Teilhabe am Leben der Gesellschaft sichert.

Nur in Verbindung mit diesen beiden „Pfeilern" einer Tätigkeitsgesellschaft kann ein dritter Pfeiler nützlich werden: ein flexiblerer Arbeitsmarkt. Isoliert von Grundeinkommen und Bezirken sinnbezogener Nicht-Erwerbsarbeit wäre die jetzt so vehement eingeforderte Flexibilisierung nur der noch radikalere Sozialabbau. Verschärfte Splitterungen der Gesellschaft, eine Zunahme von „working poor" wären die Folgen. Eine verläßliche Grundsicherung einerseits, die Chance zu befriedigenden vielfältigen Tätigen jenseits des Erwerbs andererseits, können jedoch der technisch angesagten und betriebswirtschaftlich oft sinnvollen Flexibilisierung den bösen Stachel nehmen.

Ein Umbau durch Teilen wird es erlauben, von den Fiktionen eines einheitlichen Arbeitsmarkts und weniger Typen von verbindlichen Regelarbeitsverträgen Abschied zu nehmen. Ein Grundeinkommen kann Ängste mildern und gewaltträchtige Angstabwehr vermeiden. So kann die Verwandlung von sinnbezogener Lebenszeit in fremdgesteuerte Herrschaftszeit rückgängig gemacht werden. Die Freude an Beziehungen und an spiritueller Kräftigung kann die Energien mobilisieren, die für ein gewaltminderndes Teilen nötig sind.

Eine Utopie? Gewiß, und voller Unwägbarkeiten und Risken. Noch riskanter wäre nur, weiter in den Zerfall der Arbeitsgesellschaft und in Gewalteskalationen hineinzuschlittern.

1) Siehe Beitrag „ Umbau oder soziales Chaos. Der Zukunft der Arbeitsgesellschaft", Dm Furche Nr. 18, Seite 12.

2) Siehe J. Guehenno, Das Ende der Demokratie, München 1994.

3) Siehe Herwig Büchele, SehnSucht nach der Schönen neuen Welt, Thaur 1994.

Der Autor

ist Gesellschafiswissenschafter.

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