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Digital In Arbeit

Wozu noch die Gewerkschaften?

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Im Rückblick vermag heute niemand zu übersehen, daß die Gewerkschaften einer der gewichtigsten Träger nicht nur der interventionistischen Sozialpolitik, sondern zugleich auch Exekutoren von Gedanken einer christlichen Soziallehre waren. Die Gesellschaft der Gegenwart wäre kaum Wohlfahrtsgesellschaft, hätten nicht auch die Gewerkschaften, vermöge des hartnäckigen Einsatzes ihrer Macht, eine dem Wohlfahrtszweck der Gesellschaft entsprechende Verteilung eines außerordentlich angewachsenen Sozialproduktes erzwungen. Das alles ist nunmehr bereits geschichtliche Erfahrung und dürfte nicht — schon gar nicht von Christen — geleugnet werden.

Nun befinden wir uns in Europa in einer allgemeinen Versorgungssituation, in welcher die Armut zur Ausnahme — wenn auch um so augenfälliger — geworden ist. Die Ware „Arbeitskraft“ ist knapp und erhält in Wirkung der auch für sie gültigen Preisgesetze einen Marktpreis, der ihrem Seltenheitswert entspricht.

Soweit heute sozial deklarierte Forderungen erhoben werden, sind sie häufig von der Masse (der Dienstnehmer) an die Masse, an die Totale der Konsumgesellschaft gerichtet. Der Regreß auf die „Reichen" ist weithin unvollziehbar geworden, weil es die „Reichen“ als Klasse nicht mehr gibt. Die Kosten der Sozialpolitik wie der Sozialreform sind daher zu einem beachtlichen Teil von jenen zu tragen, die ihre Nutznießer sind.

Die Dienstnehmer hätten nie in den Rang von Sozialpartnern aufsteigen können, wäre ihnen nicht, von anderen Umständen abgesehen, die organisatorische Macht der Gewerkschaften verfügbar geworden.

Die Unternehmer aber stünden, wenn ohne Kontrahent, unorganisierten, undiszipliniert begehrlichen Gruppen gegenüber, deren Mitglieder sich wohl „kaufen“, aber nicht zu Partnern machen ließen. Jeder Markt bedarf eben der Partner. Schon definitionsgemäß.

Die Arbeitsgesellschaft ist nicht mehr Zweiklassengesellschaft in der Art, daß eine Klasse legitim herrscht und die andere entsprechend der gegebenen Sozialverfassung dienend, ausbeuteoffen ist. Heute ist die Arbeitsgesellschaft eine Kooperation von gesellschaftlichen Großgruppen, die je für sich verschiedene Funktionen haben, aber sozial nicht vor- oder nachrangig sind, sondern zumindest gleich wichtig, wenn auch nicht durchweg gleich gewichtig. In einer Arbeitsgesellschaft dieser Art haben die Gewerkschaften die Aufgabe der organisatorischen Disziplinierung der Dienstnehmer, ihrer Integration, wenn nicht ihrer Repräsentation. Sie sind auch dann repräsentativ für die Großgruppe der Dienstnehmer, insbesondere der niederen Ränge, wenn sie nur eine Minderheit der Dienstnehmer in ihren Reihen haben.

Die Wohlfahrtsgesellschaft bietet heute eine ungeahnte Chancenfülle auch dem Dienstnehmer der niederen Ränge. Die Not als Allgemeinerscheinung ist absent. Ehedem waren die Gewerkschaften errichtet worden, um den arbeitenden Armen zumindest eine Kümmerposition in der Arbeitsgesellschaft zu sichern und ihre Not so weit zu lindern, daß sie Überlebenschancen hatten. In einer Situation, in der die Not unter den Dienstnehmern weithin liquidiert ist, haben die Gewerkschaften neuartige Aufgaben:

Sie sollen vor allem d a sein — als potentielle Macht — um eine relative Verelendung zu verhindern, das Auseinanderfallen der Wohlfahrtschancen, die sich den Beziehern von Besitz- und jenen von Arbeitseinkommen bieten. Man übersehe weiter nicht, daß es immer noch Dienstnehmergruppen gibt, die aus Tradition tait Kümmerlöhnen vorliebnehmen müssen. Für sie — denken wir an die Transportarbeiter — sind die hochtrabenden Ausdrücke von der Gesellschaft „im Überfluß“ noch unverständlich. Wer anders sollte sich um sie kümmern als die Gewerkschaften? Es mag sein, daß sie die Vollbeschäftigung für Perioden stark macht. Worum es aber geht, sind angemessene Löhne auf Dauer.

Wer sollte sich — ohne Gewerkschaften — um die nicht mehr erwerbstätigen Alten kümmern, um jene, die keine Marktmacht dienstbar haben?

Will man in Hinkunft die Lösung der sozialen Probleme, die auch auf den Arbeitsmärkten erfolgen muß, der „Gutherzigkeit“ von „warm- fühlenden“ Menschen überlassen?

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