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Vier Thesen über die Toleranz

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Hiemit steht im Mittelpunkt des Toleranzbegriffes die Wahrheit und kann dieser nur vom Begriff der Wahrheit her erklärt werden. Durch vier Thesen wäre hiemit das Wesen echter Toleranz zu umschreiben:

1. Die absolute Wahrheit unterscheidet sich vom subjektiven Herantasten an sie.

Objektiv gesehen, gibt es nur eine einzige absolute Wahrheit. Wenn es dem Menschengeist gegeben wäre, diese eine absolute Wahrheit in ihrem ganzen Umfang zu erfassen, dann könnte es mit logischer Konsequenz auch nur eine einzige richtige Weltanschauung und eine einzige wahre Religion geben. Nun verhält es sich aber mit der menschlichen Vernunft so, daß sie äußerst begrenzt ist, ihr Begreifen oder Umgreifen der Wahrheit demzufolge nur ein Stückwerk darstellen kann und sie aus ihrem Wesen heraus dem Irrtum unterworfen ist. Der subjektive Weg des menschlichen Geistes hin zu der absoluten Wahrheit ist und bleibt deshalb immer nur ein über Klippen und Abgründe des Irrtums führendes, mühseliges Herantasten an diese Wahrheit. Nicht ohne berechtigte Hoffnung auf einigen Erfolg, jedoch ohne die geringste Aussicht, die absolute Wahrheit je aus eigener Kraft gläubig erfassen zu können. Toleranz in diesem Sinne erscheint als ein Bekenntnis aur geringen Macht und großen Ohnmacht der natürlichen Vernunft, über die wir uns nicht hinwegsetzen können. Alle sind wir dem Irrtum unterworfen, womit bereits der Weg zur Bereitschaft, echte Toleranz zu üben, beschritten ist.

2. Die absolute Wahrheit ist multi-dimensional, unsere Erkenntnis von ihr dagegen linear.

Was dies in bezug auf die religiösen Wahrheiten bedeutet, hat Kardinal Bea vor Vertretern verschiedener Konfessionen folgendermaßen erklärt: „Man muß begreifen lernen, daß die Wirklichkeit tausend verschiedene Seiten hat, während das Wissen des einzelnen Menschen davon kaum die eine oder andere Seite wahrnimmt. Ernste Wahrheitsliebe ermahnt, sich auch die Grenzen unseres Wissens ' gegenwärtig zu halten und auch jene andere Seite der Wahrheit anzuerkennen, die die anderen sehen, ohne das zu verleugnen, was wir selbst als Wahrheit erkannt haben. Damit wird auch klar, daß mancher Irrtum nicht schlechthin falsch und verwerflich ist, sondern häufig nur die Übertreibung und Überbetonung eines Teilaspektes, der von anderen vernachlässigt wurde. Nicht nur die absolute Wahrheit als solche ist daher unbegreiflich, sondern die Wahrheit ist auch körperhaft, und wir erfassen sie deshalb meistens nur einseitig und nicht einmal so weit vollständig, als sie unserer menschlichen Einsicht an sich noch zugänglich wäre. Wir sind damit alle dem Irrtum unterworfen.

3. Toleranz ist ein Weg zu mehr Wahrheit.

Die Wahrheit ist wertvoll und stellt das dem Verstand adäquate Objekt dar. Wer dem nicht zustimmt, verfällt einem hoffnungslosen Relativismus und Nihilismus, durch die jede Aussage überhaupt sinnlos wird. So muß man auf Grund der ersten und zweiten These auch sagen, daß Toleranz zu mehr Wahrheit führt. Wenn es einem Gesprächspartner auf Grund unserer Toleranz, das heißt der Bereitschaft zum Zuhören und Eingehen auf seine Argumente, gelingt, mit wissenschaftlicher Beweisführung oder auf anderem Wege darzutun, daß wir einem Irrtum verfallen waren oder vom Ganzen nur einen Teilaspekt berücksichtigt haben, und wenn wir uns schließlich dieser Wahrheit öffnen, dann hat offenbar unser Bestand an Wahrheitserkenntnis zugenommen. Dieser Weg ist dann fruchtbar, wenn in einem echten Gespräch beide Partner zu mehr Wahrheit finden. Toleranz ist also Bekenntnis zur Wahrheit und zugleich eine Kampfansage an alle jene unlauteren Bemühungen, welche den Namen der Wahrheit mißbrauchen, um damit ihr Drängen nach Macht, Selbstbestätigung oder übler Sophistik zu verbrämen. Nur Ehrlichkeit im Angesicht der Wahrheit verdient Toleranz.

4. Unvereinbarkeit im Grundsätzlichen stellt höchste Ansprüche an die Toleranz.

Diese These wirft die tiefste Problematik der Toleranzfrage auf. Es geht um den Abgrund, der sich zwischen zwei Gesprächspartnern auftut, wenn alles ehrliche Forschen mittels der Vernunft versagen muß und trotz beiderseitigem guten Willen ein gemeinsamer Nenner nicht gefunden werden kann. Wie läßt sich also Toleranz begründen zwischen zwei Gesprächspartnern, welche sowohl von der These, daß es nur eine absolute Wahrheit gebe, als auch von der absoluten Richtigkeit der von ihnen auf Grund eines Glaubensaktes vertretenen letzten Wahrheiten überzeugt sind, wenn sich also diese letzten Wahrheiten inhaltlich nicht decken oder gar widersprechen? Es kann also die tragische Situation auftreten, daß zwei Gesprächspartner ehrlich und aus voller Überzeugung für sich in Anspruch nehmen, die Wahrheit zu besitzen, jedoch nicht in der Lage sind, ihre Aussagen einsichtig und schlußkräftig darzutuh. Natürlich kann es sich hier nur um Wahrheiten handeln, die nicht mehr mit rein natürlichen und vernünftigen Argumenten bewiesen werden können. Es gilt dies also vor allem für die religiösen Wahrheiten. In dreifacher Weise kann diese Tragik auftreten:

a) im Zusammenstoß von rein diesseitigen wissenschaftlichen Aussagen und Offenbarungswahrheiten (zum Beispiel: Aussagen der Naturwissenschaft und der Religion);

b) im Zusammenstoß von Offenbarungswahrheiten verschiedenen Ursprungs und

c) bei verschiedenen Interpretationen von Offenbarungswahrheiten gleichen Ursprungs.

Besonders tragisch ist der letzte Fall, weil hier Äußerungen- eines einzigen und dazu über alles erhabenen und seinem Wesen nach die Wahrheit verbürgenden Zeugen zu verschiedenen Glaubensbekenntnissen geführt haben. Es erhebt sich mit Recht die Frage, ob angesichts solcher Unvereinbarkeiten Toleranz sich überhaupt noch begründen lasse, sofern man an der These von der einen Wahrheit festhalten wilL Weil Gott, der sich Offenbarende, schweigt, fehlt uns der Richter, welcher die Unvereinbarkeit endgültig und sicher entscheiden könnte, es sei denn, man vertrete die These, daß die Offenbarung in einer menschlichen Instanz ständig fortgesetzt werde. Auch wenn man die Unfehlbarkeit der Kirche in Glaubens- und Sittenfragen annimmt, müssen die Aussagen der Kirche nicht schon vollständig sein. Diese Möglichkeit erkennen, heißt schon, sich für d>e Toleranz entscheiden. Darüber hinaus gibt es noch einen persönlichen Grund dafür. Ihn spricht Johannes XXIII. in der Enzyklika „Pacem m terris folgendermaßen aus: „Der dem Irrtum Verfallene hört nicht auf, Mensch zu sein und verliert nie seine persönliche Würde, die immer geachtet werden muß.

Toleranz ist durch Indifferenz gefördert. Ein echter Theologe verlangt jedoch klare Grundsätze.

Wenn das Vorausgehende den Anschein erweckt, als sei der Standpunkt des anderen Gesprächspartners zu stark in den Vordergrund gerückt, so wird dieser dadurch korrigiert, daß Toleranz mit einer festen Haltung im Grundsätzlichen zu verbinden ist und daß diese Verbindung das Fundament der echten Toleranz ist. Es schließen sich also Toleranz und ein fester Grundstock unveräußerlicher Wahrheiten keinesfalls aus. Nur eine falsche Toleranzvorstellung kann dies meinen. Man wirft sich gegenseitig Indifferenz oder Intoleranz vor und hat damit zu wenig Ehrfurcht vor der Überzeugung der anderen.

Gelebte Toleranz verlangt also Bekenntnismut, und zwar Bekenntnis zu unseren eigenen Grundsätzen, aber auch Bekenntnis zu unserer Irrtumsmöglichkeit und Bekenntnis zur eigenen Unfähigkeit, das Ganze der Wahrheit zu erfassen. Bekenntnis endlich zur Vielfältigkeit der natürlichen wie auch der übernatürlichen Wahrheit.

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