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Wahrheit

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Die Vernehmung des Angeklagten Jesus durch den Untersuchungsrichter Pilatus beendete dieser mit einem Seufzer: „Was ist Wahrheit?“ Das war keine Frage, nur ein Achselzucken über den Schwärmer, der da Zeugnis für die Wahrheit ablegen wollte. Der Römer glaubte die Janusköpfigen zu kennen, ihr Medusenhaupt, wie ihren Gelehrtenkopf. Die Juden konnten den Schwätzer frei bekommen, wenn sie wollten. Nun, sie wollten nicht. Dem Statthalter schlug die Stunde der Wahrheit.

Als „Übereinstimmung der Erkenntnis mit ihrem Gegenstand“ definiert Kont die Wahrheit. Man denkt an Angenehmes, der Schluß liegt nahe, daß Wahrheit glücklich macht. Wird sie nicht wie anderes Gut begehrt und angestrebt? Wir versuchen, uns ihrer durch Beweise zu versichern. Aber nur die mathematischen sind zuverlässig. Uberall sonst „raten und meinen“ wir bloß, „haschen nach Schatten“. Schiller zum Trotz, heben wir da „mit sterblicher Hand den Schleier“. Doch in ihr stimmt, auf keinerlei Gegenstand bezogen, die Erkenntnis nur mit sich selbst überein. Doch macht ihre Weltferne die mathematische Wahrheit zum Angelpunkt der Weltveränderung. Einst selbst voller Geheimnisse, ward sie für jedermann der Schlüssel zu allen Geheimnissen der Welt. Indem sie diese mathema-tisiert, wird sie selbst verweltlicht.

Doch wer Wahrheit sagt, denkt an die mathematische zuletzt. Wahrheitsliebend aber wird nicht genannt, wer um die Wahrheit forschend sich bemüht, sondern, wer seine Schwächen hemmungslos einbekennt. So gelten die berühmtesten „Bekenner“ solcher Art, Augustinus und Rousseau, „nur“ für aufrichtig in ihren Geburtsländern, die kein Wort für Wahrheitsliebe kennen. Vielleicht, weil man dort aufrichtiger ist als bei uns, als in England oder Spanien, wo man glauben machen möchte, man liebe auch noch masochistisch die Wahrheit, die einen bloßstellt. Der gleiche Grund, den Augustinus fand, warum wir nicht gut zu sein vermögen: weil Bewußtsein und Absiehtlosigkeit der guten Tat gleichermaßen hinderlich sind, kann auch die Unmöglichkeit echter Wahrheitsliebe erklären. Bekennen, das heißt, sich anklagen und sich rechtfertigen, niemals aber: sich anpreisen, sich loben. Daher uns die Aufforderung „Sag die Wahrheit“ stets wie' eine Drohung klingt. Mit uns selbst stimmen wir nur ungern überein. Wir wenden den Blick von unserer Wahrheit, als wüchsen Schlangen auf ihrem Haupt. Wir lassen sie lieber in ihrer „grundlosen Tiefe“, wo sie nach Schiller wohnt. Darum glauben wir diesem auch aufs Wort, den Jüngling zu Sais habe der Anblick der Wahrheit erbleichen, krank werden und sterben lassen. Während wir selbst die schrecklichsten Wahrheiten aus der Geschichte und Philosophie wie Leckerbissen genießen können, ertragen wir unsere eigene Wahrheit nicht, ertragen nicht den Blick auf uns selbst. Für jeden von uns, meint Ernst Jünger, gibt es eine Wahrheit, eine letzte, würde man sie uns enthüllen, so schnitte man uns die Sehnen durch.

Erfahrung ist nach Kant die Quelle aller Wahrheit. Welche Erfahrung also macht uns zittern, bringt uns in Todesnot? Dem Dichter der „Räuber“ scheint es ein nur durch Tod zu sühnendes Verbrechen gewesen zu sein, ein Tabu gebrochen, den Schleier von der Wahrheit gerissen zu haben. War es das tiefe Erlebnis der französischen Revolution, das ihm die Erkenntnis brachte: Handeln macht schuldig? Aber ist Nichthandeln nicht genau so frevelhaft? Oder meint Schiller die Todeswahrheit, die Jünglinge gerne schreckt und Massen in Panik versetzt? Die Wirklichkeit kennt nicht jene ins Apokalyptische gesteigerten Schreckbilder der Wahrheit, die der Weltliteratur die schönsten Blüten brachten. Ein wirklicher Ingenieur Kirilow, der in Dostojewskis Roman „Die Dämonen“ Hand an sich legt, weil er den Gedanken, daß Gott tot ist nicht erträgt^ erschiene uns nur spleenig oder wahnsinnig. Kein Leser läßt sich durch Camws' Schilderung einer absurden Welt die Lust am Dasein vergällen. Auch sterben nur die Helden an der erkannten Wahrheit; die Dichter bauen Karriere und Leben auf ihr auf. Jede Erfahrung ist also erträglich, wie man sieht, und den Tod, wie Wittgenstein sagt, erlebt man nicht. Erst in der „Stunde der Wahrheit“, in der Todesstunde, machen wir dann die. Todeserfahrung. Dann erst werden wir wissen, ob Tolstoj und Giraudoux sie zu recht milde geschildert haben, als Ubereinstimmung des Sterbenden mit dem letzten der Gegenstände, mit dem Tode, als Einwilligung in das Sterben.

So hat uns der Wunsch, die Wahrheit zu schauen, und zu werden wie Gott, das Paradies gekostet, das Leben kostet er uns nicht. Vielleicht, weil wir hinter jedem zerrissenen Schleier nur ein Bild der Wahrheit, nie sie selbst erblicken. Weil wir vor ihr geschützt sind, wie sie vor uns. So ist der Wahnsinnige vor der Erkenntnis des eigenen Wahnsinns sicher. Ihn schützt, wie uns, die eigene Unfähigkeit eines Zweifeins, auf dessen Grund die tödliche Wahrheit erscheinen müßte.

Für Jaspers ist Wahrheit das, was uns verbindet, ist also an Kommunikation gebunden, wird durch sie begrenzt. Niemals kann sich unsere existentielle Wahrheit mit der der andern zur einzigen großen Wahrheit vereinigen, nach der uns verlangt. Wir kommen über bloße Wahrscheinlichkeit nicht hinaus, sind unserer eigenen Wahrheit nie ganz sicher. Daher suchen wir Zeugen für sie, für den toten Gott, die absurde Welt, die Sinnlosigkeit des Daseins. Daher sprechen wir sie aus. Aber die ausgesprochene Wahrheit stirbt, wie die Termite an der Sonne, sobald sie ans Licht kommt. Gab uns ein Gott zu sagen, was wir leiden, so leiden wir auch schon nicht mehr, nicht mehr so, wie wir vorgeben zu leiden. Das Licht, das sie in eine Sache bringt, tötet die Wahrheit.

Und was ist nun Wahrheit? Ein Wort. Zeichen also; für welche Wirklichkeit? Schiller nennt sie das eine, das jeder verschieden sieht und das doch das eine bleibt und somit wahr. So sind die Dinge selbst die Wahrheit? Sie allerdings bleiben unberührt, wie immer wir sie sehen. Doch was sind sie selbst? Sind sie, was sie uns scheinen? Erscheinung? Haben sie auch ein Sein daneben? Narrt uns in dem Begriff der Wahrheit unser nicht zu stillender Drang zu werden wie Gott? Haben wir heute nicht die Wahrheit über die Materie gefunden? Es gibt keine Materie, lautet sie. Hinter dem letzten Schleier Vor dieser Wahrheit schauen wir: nichts. Doch wir erbleichen nicht. Denn dieses Nichts ist mächtig, es arbeitet für uns, ist Träger des Lichts und selber Licht, ist Inhalt des Bewußtseins und, wer weiß, dieses selbst; ein altes Postulat der Philosophie bestätigend: das Nichts ist das Sein.

So ist der Blick in das Atom, der uns das Nichts enthüllt, dennoch kein hoffnungsloser: Wie hier, wo Nichts das Nichts umkreist, ungeheure Kräfte wirken, die, entbunden, sich zerstrahlend und milliar-denfach verstärkend, ewig weiterwirken, so werden unsere Lebenskräfte, die der Tod vernichtet, entbunden und zerstrahlt, ins Unendliche wachsen, uns zu höherem Sein beflügeln. Muß dies nicht unsere letzte Wahrheit sein?

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